Unterwegs mit dem Retro-Zug

Die Moskauer Metro begeistert Touristen aus aller Welt. Besonders faszinierend ist sie bei Nacht, wenn die Hektik der Pendlerströme einer poetischen Ruhe weicht. Erleben lässt sich dies bei einer Nachtführung samt Fahrt mit einem historischen Metrowagen.

Einsteigen bitte: Der Zug ist ein Original aus den 1930er Jahren.

Um ein Uhr nachts, wenn die Türen für normale Fahrgäste geschlossen werden, beginnt die Reise durch die menschenleere und geradezu festlich anmutende Moskauer Metro. Die Fahrt lohnt sich. Und nicht nur, weil man dabei vieles über den Bau, die Geschichte und die Architektur dieser erfährt, sondern vor allem, weil der Untergrund der Metropole in der Nacht einen ganz eigenen Zauber hat. Gewöhnliche Metrostationen, die tagsüber voller Menschen sind, erscheinen nachts wie mysteriöse Monumentalbauten, die von ihren Schöpfern in Eile verlassen wurden. Nur irgendwo zeugt eine verlorene Bonbonverpackung oder ein heruntergefallenes Ticket von dem noch vor Kurzem pulsierenden Leben.

Das Echo, das von den Wänden sanft erwidert wird, erschreckt die Besucher unwillkürlich und regt die Fantasie an. Vielleicht passiert hier nachts in der Moskauer Metro mit ihren ganzen Geheimnissen und Legenden ja wirklich Wundersames? Stimmen, die aus dem Tunnel zu hören sind, unterstreichen noch die Unwirklichkeit dessen, was hier vor sich geht. Vielleicht brachte uns dieser Wunderzug alle in die Welt von Dmitrij Gluchowskij postapokalyptischen Metro-Romanen und da oben ist nichts mehr?

Ein Original aus den 1930er Jahren

„Oh, diese Touristen! Starren alles an, als sähen sie die Metro zum ersten Mal in ihrem Leben!“ Die Worte eines Mitarbeiters, der fröhlich mit einem Staubtuch wedelt und auf die Gruppe zugeht, bringen alle schnell wieder in die Realität zurück. Alles ist in Ordnung. Wir sind im Jahr 2019. Wir sind nur nachts in der Metro.

Unser Zug: der Waggonkasten in beige und grau, federnde Sitze, gläserne Leuchten, Holzverkleidung – alles sieht aus wie bei der Eröffnung der ersten Metrolinie 1935. In einem solchen Wagen fuhren der damalige sowjetische  Machthaber Josef Stalin und sein Minister für Eisenbahnwesen, Lasar Kaganowitsch, als sie den ersten Bauabschnitt der Metro abnahmen.

Die Fahrt beginnt an der Station Partisanskaja. Obwohl außer der Dunkelheit des Tunnels vor dem Fenster nichts zu sehen ist, ist die Geschichte in diesem Zug zum Greifen nah. Die Teilnehmer der Fahrt fühlen sich ins vergangene Jahrhundert zurückversetzt und stellen sich die Fahrgäste dieser Zeit vor: Wie sahen sie aus? Welche Zeitungen haben sie gelesen? Haben sie gelacht oder sich vielleicht gar hier in diesem Zug verliebt?

Wenige Minuten sind es bis zur nächsten Station, die Gedanken sind wieder weit weg, für den Bruchteil einer Sekunde fallen die Augen zu. Schon zwei Uhr. Das ständige Verlangen nach Schlaf ist das einzig Anstrengende an dieser Nachtfahrt.

Der Zug hält an den Stationen Elektrosawodskaja, Ploschtschad Rewoljuzii und Alexandrowskij Sad, die Fahrt endet um halb drei Uhr an der Station Kiewskaja an der Filjowskaja-Linie oder Linie 4.

Wie zu Stalins Zeiten

Macht man sich bewusst, dass der historische Zug zwischen Ploschtschad Rewoljuzii und Alexandrowskij Sad auf einer Strecke fährt, auf der schon seit 1953 kein regulärer Verkehr mehr stattfindet, verleiht das dem Nachtausflug noch eine besonders aufregende Note.

Eigentlich besteht der Ausflug in die Metro aus zwei Teilen: Vor der Fahrt mit einem Retro-Zug gibt es eine Tour durch das Depot von Ismajlowo. Aus Sicherheitsgründen ist diese jedoch nur Leuten mit russischem Pass gestattet.

Schade für ausländische Touristen, denn ein besserer Ort für eine Begegnung mit der Geschichte des Moskauer Untergrunds ist kaum auszudenken: massive Holztüren, Fotos von sowjetischen Architekten, alte Metropläne und Bilder von Zügen. Mitten auf dem Gelände des Depots gibt es dazu noch eine geschlossene Metrostation, die nur von 1954 bis 1961 in Betrieb war.

In ihrer Eingangshalle befindet sich heute der Versammlungssaal für die Depotmitarbeiter. In der Station selbst stehen verschiedene Züge wie ein Übungszug für Lokführer, im Depot können die Gäste den Angestellten bei der Arbeit über die Schulter schauen.

Informationen über die Nachtführungen in der Moskauer Metro sind auf der Website des Museums der Stadt Moskau unter mosmuseum.ru erhältlich.

Anna Braschnikowa

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