
Wenn die Sowjetunion ein Land des kapitalistischen Westens vor dem ansonsten unvermeidlichen Untergang gerettet hätte, dann wäre es wohl Italien gewesen. Zu Italien unterhielt man vergleichsweise konstruktive politische Beziehungen, setzte große Hoffnungen in die dortigen Kommunisten. Das ließ auch die Italiener in einem sympathischen Licht erscheinen. Für die meisten Sowjetbürger, die sich natürlich keine Hoffnungen auf eine Italien-Reise machen konnten, waren sie vermutlich eine Art mediterrane Version der Südländer im eigenen Land, vor allem der Georgier.
Umjubelte Auftritte im Jahr 1985
Die Kultkomödie „Die unwahrscheinlichen Abenteuer der Italiener in Russland“ von 1974 passte genau in dieses völlig unpolitische Bild. In den 1980er Jahren war es dann das Sanremo-Festival, das die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang noch weiter für Amore, Cuore und Sole erwärmte. Als Toto Cutugno 1983 mit „L’italiano“ (Italiener) seinen ersten großen Hit landete, war das aus sowjetischer Perspektive perfektes Timing. „Serenata“, ein Jahr später veröffentlicht, wurde noch populärer. Und dann der erste Auftritt des Sängers und Songschreibers in der Sowjetunion: Binnen 20 Tagen im November und Dezember 1985 gab er 28 Konzerte in Moskau und Leningrad vor 400.000 Besuchern. Der Erfolg war so umwerfend, dass auch gleich noch eine Aufzeichnung für die Silvestershow „Goluboj Ogonjok“, eine wahrlich heilige Kuh der Unterhaltung, folgte.
Toto Cutugno, Adriano Celentano, Ricchi e Poveri, Al Bano & Romina Power oder Matia Bazar waren Stars in ihrer Heimat, aber in der Sowjetunion nicht minder beliebt, womöglich sogar beliebter. Ihre Musik kam „aus jedem Bügeleisen“, wie man in Russland zu sagen pflegt, Alternativen waren rar. Nach Schallplatten standen sich die Leute die Beine in den Bauch.
Liebe auf den ersten Blick
Heute sind diese Stimmen für viele ein Stück „gute, alte Zeit“, zu der die späte Sowjetunion gern verklärt wird. Auch als Cutugnos Stern im Westen längst sank, war er in Russland, aber auch in der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern weiter sehr gefragt. Der Eurovision-Song-Contest-Gewinner von 1990 trat immer wieder im Kreml auf, fühlte sich aber auch in der russischen Provinz wohl und füllte dort mühelos große Säle. 2010 tourte er durch Sibirien und den Fernen Osten, 2011 sang er bei der Eröffnung eines Fußballstadions im tschetschenischen Grosny. Zwischendurch stand er bei Retroshows in Moskau auf der Bühne.
Russland bezeichnete Cutugno wiederholt als seine „zweite Heimat“ und sagte: „Ich habe dieses Land vom ersten Moment an liebgewonnen. Seitdem trage ich diese Liebe im Herzen.“
Gratulation an Putin
2013 brachte der Italiener zum 63. Sanremo-Festival das russische Alexandrow-Ensemble mit, einen Soldatenchor. Das stieß nicht nur auf Gegenliebe. Drei Jahre später konnte er von Glück reden, aus terminlichen Gründen eine Einladung ausgeschlagen zu haben, mit dem Alexandrow-Ensemble einen russischen Luftwaffenstützpunkt in Syrien zu besuchen. Denn die Militärmaschine dorthin stürzte kurz nach dem Start in Sotschi ab. Unter den 92 Todesopfern waren auch 64 Mitglieder des Chors.
2015 gratulierte Toto Cutugno dem russischen Präsidenten Wladimir Putin per Videobotschaft zum Geburtstag. Daraufhin war er genötigt, den Ukrainern zu versichern, dass er nie auf der Krim auftreten würde und die Ukraine sein Land Numero due nach Italien sei. Alle hier wie da in den letzten Jahren geplanten Konzerte musste abgesagt werden. Am 22. August starb Cutugno mit 80 Jahren in einem Mailänder Krankenhaus.
Tino Künzel