Vom Eis zu den Sternen

Neutrinos zählen zu den rätselhaftesten Teilchen der Physik. Sie haben kaum Masse und keine Ladung. Entsprechend schwer sind sie zu messen, offenbaren aber Geheimnisse, selbst über das Innere der Sonne. Deshalb haben russische Forscher seit 40 Jahren ihr Lager am Baikal aufgeschlagen.

Exotischer Arbeitsplatz beim Teleskop im Baikalsee: Die Fahrt ins Lager der Expedition führt über das Eis.
Exotischer Arbeitsplatz: Die Fahrt ins Lager der Expedition führt über das Eis. (Foto: Lucian Bumeder)

Ein leichtes Lächeln schiebt sich auf das Gesicht von Nikolaj Budnew, genau in dem Moment als die Reifen des Wagens das Eis berühren. Normalerweise ist die Bootsrampe im Touristenstädtchen Listwjanka am Baikal – nun ja – eben eine Rampe für Boote. Aber im März ist die gefrorene Oberfläche des Baikalsees fest wie Beton – und somit quasi eine Straße. Und der Fahrer macht auch tatsächlich keinen Unterschied zwischen Eis und Straße.

Mit 80 Stundenkilometern fegt der Kleinlaster über eine meterlange Bruchkante im Eis. Während ein paar der russischen Wissenschaftler im Wagen beinahe mit dem Kopf gegen die Decke stoßen, bewegt sich bei Budnew nichts. Dazu ist der 69-jährige Physiker zu erfahren, hat die spektakuläre Fahrt zum Neutrino-Teleskop im Baikalsee schon zu oft mitgemacht.

Eine heilige Gabe aus

Eine Straße ins Lager der Expedition gibt es nicht. Dazu fällt die Südküste des Sees zu steil ab. Stattdessen fahren wir direkt auf dem Eis und folgen der alten Eisenbahn. Als ein ehemaliger Teil der Transsib schlängelt sie sich spektakulär am See entlang.

An einer der ersten Landzungen der zerklüfteten Küste stoppt der Wagen. „Hier fahren wir nie vorbei – seit 40 Jahren,“ betont Budnew, während er mit den Fingern ein paar Tropfen Wodka auf den See verspritzt. „Der Ort ist heilig,“ erklärt er. Der verschüttete Alkohol sei eine lokale burjatische Tradition, als Gabe an Burchan, die wichtigste Gottheit. Noch während der Sowjetunion kam der heutige Dekan der Irkutsker Staatlichen Universität (IGU) auf seiner ersten Expedition an den See, um den Ort für das geplante Teleskop zu untersuchen. Seitdem hätten sich alle Wissenschaftler an die Tradition gehalten.

Spektakuläre Eissplitter erschweren die Fahrt über den Baikalsee.
Spektakuläre Eissplitter erschweren die Fahrt über den Baikalsee. (Foto: Lucian Bumeder)

Dafür gibt es wohl noch einen anderen Grund: Die ur-burjatische Tradition lässt sich ausgezeichnet mit der ur-russischen Tradition von Wodka und Sakuski verbinden: auf den See, auf die Freundschaft der Völker, auf die jungen Frauen – Gründe zum Anstoßen gibt es viele und auf dem Eis schließlich weder Polizei noch Gegenverkehr. Spätestens jetzt sind alle Wissenschaftler spürbar gut gelaunt. Denn die halbstündige Fahrt zum Lager ist atemberaubend. Hinter 30 Kilometern Eis glänzen die schneebedeckten Gipfel der Chamar-Daban-Bergkette in der Frühlingssonne. Davor breitet sich die offene, weiße Fläche des gefrorenen Sees aus. Immer wieder erzwingen Felder mit riesigen Eissplittern einen Umweg. Die entstehen, wenn der Wind das noch frisch gefrorene Eis zerbricht und aufrichtet.

Karge Bedingungen im Lager

Dennoch ist auf den ersten Blick nicht klar, warum die 50 Forscher sich ausgerechnet für diesen Ort entschieden haben, um ein millionenschweres Experiment zu starten. Das Lager der Expedition ist schwer zu erreichen, nur über den See oder die alte Eisenbahn. Die Lebensbedingungen sind alles andere als luxuriös. Die Forscher leben in kleinen Hütten aus Holz und Blech, meistens zu zweit. Drinnen stehen alte Elektroheizkörper und Kohleöfen für besonders kalte Nächte.

Die Hütte von Budnew ist 35 Jahre alt. Das Wasser zum Trinken und für den Abwasch gibt es aus einem Loch im Eis. Auch der Gang zur Toilette in der Kälte des Morgens ist keineswegs eine Freude. Die ist aus nachvollziehbaren Gründen in gewisser Entfernung untergebracht. Denn auch Minusgrade helfen nur begrenzt gegen den Geruch der Plumpsklos.

Aber der Baikal bietet ausgezeichnete Bedingungen, um Neutrinos zu messen, was eine aufwendige Aufgabe ist. Denn die Teilchen sind noch einmal sehr viel kleiner als Atome. Und sie besitzen keine elektrische Ladung, was es schwer macht sie überhaupt zu erfassen. Aber gerade ihre geringe Größe macht sie für Wissenschaftler so vielversprechend. Denn sie erlauben Rückschlüsse über bisher unverständliche Prozesse der Astrophysik.

Neutrinos entstehen bei radioaktiven Prozessen jeder Art, zum Beispiel bei Fusionsreaktionen in der Sonne. Aber im Gegensatz zu den dort ebenfalls entstehenden Photonen (also Licht) durchdringen Neutrinos ohne Probleme Materie. Daher erreichen sie auch über große zeitliche und räumliche Entfernungen unverändert die Erde und bieten Informationen über Himmelskörper, die anders unerreichbar sind: das Innere der Sonne zum Beispiel oder das Zentrum unserer Galaxie oder gar den Urknall.

Jagd nach dem Unsichtbaren

Am nächsten Tag geht es mit dem Auto in das Lager auf dem See, das sich vier Kilometer vom Ufer entfernt befindet. Hier werden die Vorteile des Sees klar. Überall stehen Kräne auf dem Eis. An langen Stahlseilen versenken die Forscher große Kugeln im Wasser. „Im Grunde sind das Augen – nur eben sehr groß und dadurch sehr sensibel“, erklärt Alexandra Belogolowa, Doktorandin an der IGU. Denn das eigentliche Teleskop befindet sich im Wasser und hat die Form vieler langer Schnüre. An ihnen sind in einer Tiefe von bis zu 1240 Metern jeweils zwölf optische Module aufgehängt, die das umliegende Wasser beobachten.

Wissenschaftler bereiten Sensoren für das Teleskop im Wasser vor.
Wissenschaftler bereiten Sensoren für das Teleskop im Wasser vor. (Foto: Lucian Bumeder)

In der Finsternis der Tiefe kann man ein schwaches, bläuliches Licht beobachten, erläutert die junge Wissenschaftlerin. Diese sogenannte Tscherenkow-Strahlung entsteht, wenn schnell fliegende Neutrinos mit Wasseratomen zusammenstoßen.

Aus der Form des Lichtkegels können die Physiker die Flugbahn der unsichtbaren Neutrinos rekonstruieren. Da nur ein sehr geringer Anteil der Abermilliarden von Neutrinos auf die Atome des Wassers trifft, beobachten die Forscher große Volumen an Wasser und das teilweise jahrelang, um statistisch relevante Muster zu entdecken. Bis 2021 soll das Teleskop weiter ausgebaut werden und dann eine Wassermenge von 400 Kubikkilometern abdecken. Damit wird das „Baikal-GVD“ zu einem der drei größten Neutrino-Teleskope weltweit.

Gute Bedingungen für die Forschung

Einer der größten Vorteile des Baikal ist seine Lage auf der Nordhalbkugel. Dadurch kann die Anlage das Zentrum der Milchstraße untersuchen. Denn Teleskope dieser Art können nur Neutrinos erfassen, die von unten kommen, also durch die Erde selbst. In der Atmosphäre sind zu viele störende Teilchen unterwegs.

Der See ist auch aus pragmatischen Gründen gut geeignet. Denn die Kälte Sibiriens macht die aufwendige und teure Suche nach Neutrinos zumindest ein bisschen leichter. Durch das Eis können die Wissenschaftler auf Lastwagen und Kräne zurückgreifen, um das Teleskop zu warten und neue Ausrüstung zu installieren.

Dank der alten Bahnstrecke war sogar bereits eine gewisse Infrastruktur vorhanden. Im Mittelmeer etwa sei die Suche nach Neutrinos viel aufwendiger, weil die Forscher auf Schiffe angewiesen sind. „Wir haben ungefähr 5 Millionen Dollar im Jahr zur Verfügung“, führt Budnew aus und zeigt sich zufrieden mit der Finanzierung der Forschung in Russland: „Das ist genauso viel, wie wir im Moment realistisch ausgeben können.“

Für Luxus im Lager reicht das Geld nicht. Dennoch haben sich die Wissenschaftler gemütlich eingerichtet. Es gibt ein Volleyballfeld – auf dem Eis. Zweimal täglich gibt es ein gemeinsames Essen in einem alten Holzhaus, das zusammen mit der Bahnstrecke 1905 errichtet wurde. Aber das Herzstück des Lagerlebens ist die selbstgebaute Banja. Geheizt mit Kohle und Birkenholz ist sie nicht nur zum Waschen da, sondern ein zentraler Treffpunkt am Abend. „Zehn Meter weg vom Baikal – eine bessere Datscha gibt es in ganz Russland nicht“, scherzt der alte Physiker Budnew, warum er auch nach 40 Jahren jedes Jahr in seine kleine Expeditionshütte zurückkehrt.

Lucian Bumeder

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