Spurensuche in Schytomyr

Wo ist mein Zuhause? In ukrainischen Wäldern oder in deutschen Bergen? Der Verein „Wiedergeburt“ im Schytomyrer Gebiet führt Menschen deutscher Abstammung aus der Nordukraine zusammen. Sie sind auf der Suche nach ihren Wurzeln und treffen sich in Deutschkursen.

Nina Stepanenko erforscht die Geschichte ihrer deutschen Vorfahren. /Foto: Khrystyna Khomenko

Hinter der Tür der wissenschaftlichen Bibliothek von Schytomyr erklingt die Stimme einer Sprachlehrerin. Sie beginnt gerade die Stunde für Deutschanfänger. „Was möchten sie bestellen?”, fragt die ältere Frau mit dunkelroten Haaren eine Dame mit blondem Bob. Die beiden stellen einen Dialog in einem Café nach. Die Teilnehmer hören neugierig zu, beantworten Fragen, sprechen miteinander und singen dann zusammen. Die 62-jährige Mathematiklehrerin Nina Stepanenko ist eine von ihnen. Ihre Motivation Deutsch zu lernen, hängt mit ihrer eigenen Familiengeschichte zusammen. Als junge Musikschülerin hat sie ihren Vater gefragt, woher ihr damaliger Familienname Preissner stammte. Er ist ihr ausgewichen, wollte oder konnte nicht antworten.

Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln

Die Frage nach der Herkunft hat Nina ihr ganzes Leben begleitet. Anfang der 2000er Jahre hat die in Lugansk geborene Frau begonnen, ihre Familiengeschichte zu untersuchen. Das Schicksal, der Krieg in der Ostukraine, hat sie vor fünf Jahren nach Schytomyr geführt. Wie sie durch genaue Nachforschungen erfuhr, ist es zufälligerweise auch der Ort, wo die Wurzeln ihres Familiennamens Preissners liegen – in Wolhynien selber. Nina weint, während sie die Geschichte des deutschen Teils ihrer Familie erzählt: Verfolgung, Kriege, endlose Tränen und unaussprechliches Leiden. Ninas Großvater Karl Preissner und seine zwei Brüder wurden erschossen, zwei andere sind während des Zweiten Weltkrieges umgekommen. Im Grunde genommen wurde das Thema der Herkunft in ihrer Familie nie besprochen und die deutschen Namen teilweise angeglichen, damit sie unauffälliger waren. „Vaters Bruder Gottfried Karlowitsch Preissner kannte ich nur als Onkel Kolja Karpowitsch.“ Mühevoll hat sie sich anhand verschiedener Unterlagen im Archiv Schytomyr die Geschichte ihrer Vorfahren erarbeiten können.

Deutsche Spuren im Archiv von Schytomyr. /Foto: Khrystyna Khomenko

Die deutsche Minderheit im ukrainischen Schytomyr umfasst nach Schätzungen von Wolodimir Pinkovwkij, dem Leiter des Vereins „Wiedergeburt“, rund 1000 Personen. Die Schytomyrer Deutschen nehmen an Veranstaltungen des Vereins „Wiedergeburt“ teil, einige nehmen an Deutschkursen teil und tauschen dort ihre Erfahrungen aus. Andere besuchen regelmäßig die Gottesdienste der lutherischen Kirche und fahren zu den Kirchentagen nach Deutschland. Alle sind am Bau der interkulturellen Brücken zwischen der Ukraine und Deutschland beteiligt, führt Pinkowskij aus. Sie leben weiter zwischen zwei Welten und suchen die Antwort auf die Frage: Ist die Ukraine mein Zuhause geworden oder werde ich mich in meiner „alten“ Heimat besser fühlen? „Zur Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs wurden die Deutschstämmigen verfolgt und getötet. Viele Deutsche hielten ihren echten Familiennamen geheim, veränderten ihn oder nahmen den der Ehepartner an, um mehr oder weniger außer Gefahr zu sein“, erklärt Pinkowskij. Manche Menschen wissen nichts von der deutschen Abstammung ihrer Großeltern oder erfahren es erst, wenn sie genauer in den Unterlagen nachschauen, so wie es der Fall bei Nina war.

Ein Deutscher in der Sowjetarmee

Bei Witalij M., der seinen Namen nicht in einer Zeitung sehen möchten, war das anders – ihm war der deutsche Hintergrund seiner Familie immer bewusst. „Merke dir das mein Sohn, du bist ein Deutscher!“, erklärte sein Vater ihm regelmäßig und taufte ihn heimlich. Schon im jungen Alter war es ihm wichtig, seinen deutschen Hintergrund offen zulegen. Beleidigende Worte seiner Mitschüler „Sieh mal, ein Faschist“ verletzten ihn, aber er lernte auch, sich dagegen zu wehren. Als Junge trieb Witalij M. mit großem Fleiß und Eifer Sport, gewann Wettbewerbe, bekam dadurch die Möglichkeit, an einer Militärschule zu studieren, und machte später trotz seines deutschen Familiennamens eine gute Karriere beim Militär. Das war während der Sowjetunion nicht selbstverständlich.

Beim Verein „Wiedergeburt“ können Deutschstämmige ihre Sprachkenntnisse verbessern. /Foto: Khrystyna Khomenko

Bei den Erinnerungen an seine Vorfahren wird sein Blick wehmütig. Im Jahr 1941 wurden die Großeltern von Witalij M. nach Sibirien deportiert und unter „Sonderkommandantur“ gestellt: Sie durften nur ein einziges kleines Päckchen mit Lebensmitteln mitnehmen und wurden gleich mit Tausenden Deutschen in Güterwaggons fürs Vieh verladen. Viele starben während der langen Fahrt, ihre Leichen wurden einfach während der Pausen hinausgeschmissen. Ein Drittel der Deutschen starb schon in Sibirien an nagendem Hunger, eisiger Kälte und Krankheiten. „Sie gruben einfache Erdhütten mit bloßen Händen und kochten Brei aus Tannennadeln!“ So fasst Enkel Witalij die Erzählungen seiner Großmutter zusammen. Drei von fünf Kindern von Witalijs ­Großeltern wurden wie Hunderttausende unschuldig Deportierte in Zwangsarbeitslager gesteckt und starben einen grausamen und zu frühen Tod.

Grammatik pauken für die Auswanderung

Nach der Abschaffung der Sonderkommandantur zogen viele Verwandte von Witalij M. aus Sibirien nach Kasachstan. Er selbst wurde nach Schytomyr zum Militärdienst geschickt und ist bis heute hier geblieben – sehr gerne tauscht er sich in der Wiedergeburt mit anderen Deutschstämmigen aus. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion siedelten die meisten Verwandten nach Deutschland um. Witalij M. konnte es wegen seiner Anstellung beim Militär nicht. Seine Besuche bei seinen Verwandten stärken seinen Wunsch, selber umzusiedeln. Deswegen sitzt er in einem der Sprachkurse, die von der Wiedergeburt angeboten werden und paukt deutsche Vokabeln und Grammatik. Genau wie Nina Stepanenko ist es ihm wichtig, die Sprache seiner Vorfahren besser zu erlernen und auch den Kontakt zu Deutschland zu erhalten.

von Switlana Nalapko, Anastassia Krawtschenko und Khrystyna Khomenko

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