Sotschi als Wohnort: Leben im Urlaubsparadies

Fast sieben Millionen Urlauber wurden 2021 in Sotschi gezählt. Doch die südrussische Stadt ist auch ein Sammelbecken für Russen, die sich hier ein besseres Leben und ein bequemeres Arbeiten erhoffen oder den Ort als Sprungbrett ins Ausland sehen. Für die Deutschlehrerin und Journalistin Anastassija Buschujewa ist ihr erstes Jahr in Sotschi fast vorbei. In der MDZ schreibt sie über ihre Erfahrungen und Eindrücke.

Zentral-Sotschi. Administrativ umfasst die Stadt rund 100 Kilometer Uferlinie. (Foto: Tino Künzel)

Mein Umzug aus einem Moskauer Vorort nach Sotschi war nicht von langer Hand geplant, sondern ergab sich spontan. Vorigen Sommer wollte ich einige Wochen hier verbringen – und bin einfach geblieben. 1400 Kilometer südlich von Moskau kam ich mir vor wie in einer entspannten Außenstelle der Hauptstadt. Beim Coworking mit anderen Umzüglern aus ganz Russland, die in Sotschi ihren Home-Office-Arbeitsplatz aufgeschlagen haben, fühlen sich Rhythmus und Spannung an wie in Moskau. Doch kaum hat man das Büro verlassen und atmet den Duft blühender Magnolien ein, umgeben von lächelnden Menschen, legt sich der innere Schalter wie von selbst um und wechselt in den Erholungs-Modus. Mir scheint, in Moskau ist diese natürliche Option irgendwann einfach verschwunden.

In Sotschi habe ich reihenweise Leute kennengelernt, die alle wie ich aus anderen Gegenden stammen. Meine Freundin Tonja witzelt, dass gebürtige Einwohner von Sotschi im Roten Buch vom Aussterben bedrohter Arten zu finden sind. Wobei Sotschi für viele meiner neuen Bekannten nach ihren Worten eine Zwischenstation ist. Manche haben sich schon wieder verabschiedet, um den St. Petersburger Sommer zu erhaschen. Andere sind nach Georgien oder Bali weitergezogen, einige nach Moskau zurückgekehrt. Warum sie es nicht länger in Sotschi ausgehalten haben, dafür wurden unterschiedliche Gründe genannt: die kosmischen Immobilienpreise, der Wunsch, außerhalb Russlands zu leben, das Gefühl, sich verändern zu müssen.

Stadt der Kontraste

Ich hingegen kann hier noch jede Menge Entdeckungen machen. Was ich schon weiß: Sotschi und die angrenzenden Urlaubsorte sind geradezu ein Universum für sich. Da wäre zum Beispiel das schrille Adler mit seinem kaukasischen Flair. Der Stadtteil erinnert mich an die lärmenden Basare der 1990er Jahre. Aber Sotschi – das ist auch Krasnaja Poljana, eine unglaubliche Symbiose aus Bergdorf und supermodernem Ferienressort. Und natürlich das Nebeneinander der Jahreszeiten! Während an der Schwarzmeerküste die Badesaison in vollem Gange ist, kann in den Kaukasusbergen Ski gefahren werden. Wenn das nicht fantastisch ist!

Viel grüner kann eine Stadt nicht sein. (Foto: Anastassija Buschujewa)

Nur in Sotschi muss ich nicht zwischen einer hochentwickelten städtischen Infrastruktur und unberührter, himmlischer Natur wählen. Früher schien es für mich normal, Abstriche in der einen oder anderen Richtung machen zu müssen. Hier sind solche Kompromisse nicht nötig.

Nachteile von Luftfeuchtigkeit bis zu Touristen

Natürlich gibt es auch Probleme, von denen ich aber nicht viel mitbekomme. Meine Freunde klagen über eine schlechte medizinische Versorgung, über Staus zwischen dem Stadtzentrum und Adler und über die brütende Hitze im Sommer. Die hohe Luftfeuchtigkeit sorgt schon bei Temperaturen um die 25 Grad für Schweißausbrüche. Wäsche auf dem Balkon zu trocknen, dauert eine Ewigkeit.

Oft wird auch auf die Urlauber geschimpft, die mit Luftmatratze unterm Arm die Stadt in Beschlag nehmen und nicht immer die besten Manieren an den Tag legen. Man schüttelt den Kopf über Leute, die sich in nassen Badeklamotten im Einkaufszentrum tummeln. Ich kann dazu nicht viel sagen: Mit Beginn der Ferienzeit an den Stränden bin ich in die Berge umgezogen und studiere die Sitten und Gebräuche in Krasnaja Poljana.

Touristen gibt es hier oben ebenfalls. Sie tragen T-Shirts mit Aufschriften wie „Besser als Berge sind nur Berge, die ich noch nicht erobert habe“, erzählen mit Vorliebe Geschichten von ihren Wandertouren und sind eine Inspiration für mich.

Roulette zwischen wilden Tieren

In Krasnaja Poljana spüre ich Unternehmergeist und erlebe tagtäglich, wie zusammengeht, was scheinbar nicht zusammenpasst. Vor einer Woche habe ich wieder einmal meinen Horizont erweitert und war zum ersten Mal im hiesigen Casino (anlässlich eines Konzerts der Band Iowa). Der Aha-Effekt konnte da selbstverständlich nicht ausbleiben. Rings um das Tal sind Bären und Schakale unterwegs, während mittendrin im Glanze der Kronleuchter die Roulettekugeln rollen und Black Jack gespielt wird. Anderswo würde mich diese Kombination aus Moskauer Glamour und provinzieller Eigenart abstoßen. Aber hier wirkt sie durchaus harmonisch.

Die Autorin in den Kaukasusbergen, die ihr ans Herz gewachsen sind (Foto: Anastassija Buschujewa)

Krasnaja Poljana war 2014 bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi Schauplatz der Wettbewerbe in den alpinen Sportarten. Binnen weniger Jahre hat sich komplett verwandelt, was vorher ein gewöhnlicher kleiner Ort in den Bergen war. Die Wohnung, in der ich lebe, gehört dem Urenkel einer Griechin, die sich als eine der Ersten hier ansiedelte. Auf schwarz-weißen Fotografien steht sie inmitten einfacher Bauernhäuser. Wenn sie wüsste, was aus ihrem Dorf geworden ist, sie käme aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Viel Hilfsbereitschaft

Ich bin Sotschi sehr dankbar. Das Weltgeschehen der letzten Monate war in dieser Umgebung leichter zu ertragen. Sie hat mir die Kraft verliehen, mit den Sorgen und Ängsten dieses Frühjahrs irgendwie fertigzuwerden.

Überhaupt ist die Bereitschaft, einander zu helfen und zu kooperieren, hier stark ausgeprägt. Viele sind im Alleingang nach Sotschi umgezogen. Wir sind alle in einer vergleichbaren Lage. Mal braucht man eine neue Bleibe, mal muss etwas transportiert, ein Zelt oder ein Projektor ausgeliehen werden. Im Unterschied zu Moskau, wo vergleichbare Aufgaben genauso gelöst werden, geht hier alles ohne Hektik, Eile und Konkurrenzdenken ab. Wo Wärme, Schönheit und schmackhaftes Essen aus frischen Zutaten im Überfluss vorhanden sind, werden die Ellbogen nicht ausgefahren. So empfinde zumindest ich es.

Noch eine Menge zu entdecken

Einmal habe ich einen Artikel über das Projekt der „Gartenstadt“ im Moskauer Stadtteil Sokol geschrieben. In Sotschi fühlte ich mich daran erinnert. Überall ist man von Knospen umgeben. Wenn die einen verblühen, gehen die nächsten auf, noch prächtiger und intensiver duftend. Als ich vorigen August hier angekommen bin, fand ich es umwerfend, dass auf der Straße Dattelpflaumen wachsen. Man kann sie einfach pflücken und essen. Die Äste biegen sich vor Früchten. Auch Walnüsse und Feigen sieht man oft.

Nach knapp einem Jahr in Sotschi kenne ich mich mit regionalen Süßigkeiten aus, habe gelernt, wie man Honig auf seinen Ursprung prüft, wie man feilscht oder auch einen Motorroller fährt. Außerdem bin nun endgültig in die Kaukasusberge verliebt. Und ich habe das schöne Gefühl, dass es für mich hier noch viel zu erforschen gibt.

Anastassija Buschujewa ist Redakteurin der Kinderzeitschrift „Schrumdirum“, die im selben Verlag erscheint wie die „Moskauer Deutsche Zeitung“.

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