Russland gehört zu Europa. Ein Gastbeitrag

Das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau war schon deutlich besser. Unter welchen Vorzeichen hat nun die neue Bundesregierung die Amtsgeschäfte übernommen und was heißt das für die deutsche Russlandpolitik? Darüber schreibt Thomas Kunze, Leiter des Auslandsbüros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Russland, in einem Gastbeitrag für die MDZ.

Zwischen Lissabon und Wladiwostok: Thomas Kunze von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau (Foto: Konrad-Adenauer-Stiftung)

Durch die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts sind Deutschland und Russland in ganz besonderer Weise miteinander verbunden. Kein Krieg in der Menschheitsgeschichte war verlustreicher an Opfern und größer an Zerstörungen als der Zweite Weltkrieg. Seine Spuren und Narben prägen die Gesellschaften und die Politik in vielen Ländern bis heute. Historischer Fakt ist, dass die verlustreichsten und entscheidendsten Kämpfe auf dem Gebiet der Sowjetunion stattfanden. Mindestens 27 Millionen Menschen verlor die UdSSR in diesem Krieg, größtenteils Zivilisten.

Noch ganz unter dem Eindruck des Krieges sagte der Bundeskanzler Konrad Adenauer, dessen Namen unsere Stiftung trägt, 1959: „Die Toten mahnen uns. Sie haben uns Überlebenden die Aufgabe hinterlassen, aus den Erfahrungen und Leiden der Vergangenheit zu lernen, ein besseres Deutschland aufzubauen und für den Frieden zu wirken.“ Was 1959 galt, ist noch heute aktuell. Das Streben nach guten, partnerschaftlichen deutsch-russischen Beziehungen sollte uns deshalb Verpflichtung sein. Dies gilt umso mehr in Zeiten, in denen die Völker Europas vor neuen Herausforderungen stehen.

Gemeinsame Sorgen und Potentiale

Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts sind durch eine tiefgehende geopolitische Umwälzung geprägt. Zunehmend zeichnet sich eine Konfrontation zwischen den USA und China im indopazifischen Raum ab. Die politische Bedeutung Europas nimmt seit geraumer Zeit ab. Sowohl in Deutschland als auch in Russland befinden wir uns heute an einem Scheideweg. Vielfach sind wir mit denselben Problemen konfrontiert: demographische Krisen, Überalterung der Bevölkerung und Masseneinwanderung. Hinzu kommen globale Herausforderungen wie die Klimaveränderung, die Corona-Pandemie sowie nicht zuletzt die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft.

Doch statt unsere Potentiale zu bündeln, erschweren politische Widersprüche heutzutage den Dialog. Dabei sollte es darum gehen, nach positiven Zukunftsvisionen zu suchen. Das könnte im Bereich der Klimapolitik eine deutsch-russische Wasserstoffpartnerschaft sein. Für die deutsche Wirtschaft ist Russland ein interessanter Markt. Die Russische Föderation steht trotz Sanktionen heute auf einem finanziell und wirtschaftlich stabilen Fundament. Dazu tragen eine geringe Staatsverschuldung, aufgefüllte Währungs- und Gold­reserven und die zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtungen mit China bei.

In ausgewählten Themenfeldern besteht, selbst bei den derzeitigen Unstimmigkeiten, durchaus auch Potential zur sicherheitspolitischen Zusammenarbeit. Dazu könnte eine Kooperation in Zen­tralasien und Afghanistan gehören, um eine Ausbreitung radikalislamischer Ideen und neue Migrationsströme zu verhindern. Das Bedrohungspotential, welches von dschihadistischen Bewegungen aus Afghanistan und Zentralasien ausgeht, ist für Russland dabei weitaus akuter. Wie aktuell diese Bedrohung ist, verdeutlichen jüngste Meldungen über eine zunehmende Aktivität des sogenannten IS am Hindukusch.

Was eine Reise durch Russland zeigt

Die Kooperation mit Russland, dem großen europäischen Nachbar der EU, ist dabei nicht allein ein pragmatischer Vernunftentschluss, aus der Not geboren und von der prekären globalen Konfliktlage diktiert. Ein gemeinsames Europa, ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok, wäre ein enormes Friedensprojekt. Jeglicher Vision einer gemeinsamen Zukunft liegt die Überzeugung zugrunde, dass Russland zu Europa gehört und untrennbar mit der europäischen Kultur und Zivilisation verbunden ist.

Russlands Kultur und Geschichte verweisen auf eine enge Beziehung und Verflechtung mit den heutigen EU-Staaten. Die russischen Adelsgeschlechter und die Zarenfamilie waren aufs Engste mit den anderen europäischen Fürstenhäusern verwandt. Die Werke Pjotr Tschaikowskis, Lew Tolstois, Ilja Repins und Fjodor Dostojewskis, um nur einige zu nennen, sind integraler Bestandteil der abendländischen Kultursphäre. Eine Reise durch Russland lässt auch außerhalb von Moskau und St. Petersburg die Bedeutung europäischer Kultur und Geschichte erahnen: Von Murmansk bis Wladiwostok wird man Europäer treffen und die Handschrift europäischer Kultur überall deutlich lesen können.

Für uns als Konrad-Adenauer-Stiftung ist es wichtig, in Russland mit Vertretern des Staates und der Bürgergesellschaft zusammen zu arbeiten. Dazu gehören Universitäten, öffentliche Einrichtungen, die Russisch-Orthodoxe Kirche, gesellschaftlich-kulturelle Institutionen sowie Nichtregierungsorganisationen.

Die Bedeutung, die den deutsch-russischen Beziehungen insgesamt zukommt, zeigte der letzte Russlandbesuch der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel im August dieses Jahres. Es handelte sich um mehr als einen Abschiedsbesuch. Vielmehr wurde deutlich, dass Deutschland als einem der größten Länder der EU die Beziehungen zu Russland auch in schwierigen Zeiten wichtig sind. Selbst bei den bestehenden Differenzen, die in aller Offenheit angesprochen wurden und auch weiter angesprochen werden müssen, ist klar, dass Berlin und Moskau belastbarer Verhältnisse bedürfen.

Thomas Kunze

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