Russland, eine Straßenbekanntschaft

Sie hat lange mit sich gerungen. Am Ende ist die deutsche Journalistin Marion Hahnfeldt (52) diesen Herbst fast einen Monat durch Russland gefahren. Was war das für eine Erfahrung?

Marion Hahnfeldt und ihr treuer Gefährte: ein Volvo, Baujahr 1990. Wenn der sprechen könnte, hätte er garantiert viel zu erzählen. (Foto: Privat)

Zu Weihnachten bekam Marion Hahnfeldt letztes Jahr eine Russlandkarte geschenkt. Die hing dann bei ihr eine Zeitlang über dem Sofa, bis Russland kurz vor dem 24. Februar von der Wand fiel. Da hat sie die Karte dann auch nicht wieder an ihren alten Platz befördert. Nach allem, was anschließend passierte, konnte ihr Russland erst einmal gestohlen bleiben. Dabei hatte sie doch so große Pläne mit dem Land gehabt.

Marion Hahnfeldt ist eine deutsche Journalistin, die vor allem freiberuflich arbeitet, aber auch einen Schreibtisch beim Redaktionsnetzwerk Deutschland in Hannover hat. Mit Russland verbindet sie, wenn man so will, ihre Kindheit und Jugend in der DDR. Doch irgendeine spezielle Affinität hat die Tatsache, dass sie im Brandenburgischen aufgewachsen ist, dann auch nicht mit sich gebracht. Hahnfeldt spricht weder Russisch noch ist sie bis vor Kurzem jemals in Russland gewesen.

Auf den Spuren deutscher Siedler

Erst einmal ging es in ganz andere Richtungen. Nach Australien. Nach Amsterdam. Und dann kreuz und quer durch die USA, vor fünf Jahren war das. Mit dem Auto begab sich Hahnfeldt auf die Spuren deutscher Siedler im Mittleren Westen. Innerhalb von zwölf Wochen traf sie in zwölf Bundesstaaten die Nachfahren von sechs Millionen Deutschen, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert sind. Davon zeugen nicht zuletzt die vielen deutschen Städtenamen in den USA, von Berlin über Hamburg bis zu New Leipzig. Aber auch zahlreiche amerikanische Marken, die in aller Munde sind, und sogar Donald Trump haben deutsche Wurzeln.

Zurück in Deutschland, wurde aus dem Projekt „German Heimat“ eine Ausstellung im Auswanderermuseum BallinStadt in Hamburg. Dort sind Hahnfeldts Porträts von Amerikadeutschen heute Teil der Hauptausstellung. Untertitel: „Wie deutsch sind die USA?“

Erfolg und Tragik

Aber bei den Recherchen war noch eine ganz andere Frage aufgetaucht: Wie viel Osten steckte eigentlich in den deutschen Auswanderern, die in den Westen gingen? Denn die stammten beileibe nicht nur aus Deutschland. In den USA stieß Marion Hahnfeldt auf Donauschwaben, Bukowinadeutsche, Russlanddeutsche. Irgendwann sagte sie sich: Ich muss dahin, wo alles angefangen hat. Und so fand „German Heimat“ in diesem Jahr seine Fortsetzung: Bereits ein halbes Jahr ist die Deutsche mit ihrem alten Volvo in Osteuropa unterwegs, um dort mit Angehörigen der deutschen Minderheiten zu sprechen und sich ihre persönlichen Schicksale erzählen zu lassen. Ein Unterschied zu den USA hat sich dabei schnell herauskristallisiert: „Deutsche in Amerika, das ist eine Erfolgsgeschichte, Deutsche in Osteuropa eine Geschichte voller Tragik. Auf Russland trifft das ganz besonders zu.“

Russland. Als Hahnfeldt im April losfuhr, waren die russischen Landgrenzen noch pandemiebedingt geschlossen, eine Einreise mit dem Auto erübrigte sich deshalb schon aus diesem Grund. Doch das änderte sich dann Mitte Juli. Nun musste eine Entscheidung her. Einerseits war Russland für ihr Projekt ein wichtiges Ziel, andererseits: Wollte sie vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ukraine dort wirklich hin? Und wie stand es eigentlich um die Sicherheit? Von den Freunden und Kollegen in Deutschland rieten ihr ungefähr so viele ab wie zu. Letztlich setzte sich der journalistische Ansatz durch: Hahnfeldt wollte sich ihr eigenes Bild von Land und Leuten machen, auch und gerade in diesen Zeiten.

Viel Alltag in Russland

Es sind dann fast 5000 Kilometer geworden, die sie zwischen Mitte September und Mitte Oktober in Russland zurückgelegt hat, von der georgisch-russischen bis zur russisch-estnischen Grenze und meistens irgendwie der Wolga folgend. Ein- wie Ausreise kosteten Nerven, der Ton war deutlich rauer als anderswo, doch beide Male endeten die Kontrollen versöhnlich. In Russland hat Hahnfeldt sowohl Menschen kennengelernt, die die russische „Sonderoperation“ in der Ukraine verteidigen, als auch solche, die darüber entsetzt sind. Vor allem aber war weder das eine noch das andere nach außen unbedingt sichtbar. Der vorherrschende Eindruck stattdessen: Es herrscht mehr oder weniger Alltag.

Das Land hat sie, aus der Türkei und Georgien kommend, als „ex­trem europäisch“ empfunden, „sehr wohlsortiert“ und „fast schon wie zu Hause“. Die großen Straßen seien in einem ausgezeichneten Zustand und die Autofahrer hielten sich im Großen und Ganzen an die Verkehrsregeln, was ein scharfer Kontrast zu Georgien sei, wo sich jeder seine eigenen mache. Auch sei Russland viel sauberer, nicht nur im Vergleich zu Georgien, sondern vielleicht auch zu Deutschland. „Ich weiß gar nicht warum, aber man sieht keinen Müll.“

Zwei Teigtaschen zum Abschied

Nicht so recht warm wurde sie mit den Städten („zu viel Platte“) und hatte schon bald ein großes Bedürfnis nach Natur. Allerdings gab es hier auch Ausnahmen. Wladikawkas im Nordkaukasus zum Beispiel hat ihr sogar ausnehmend gut gefallen. „Eine hübsche Stadt mit tollem Boulevard und schönen alten Häusern im Jugendstil.“

Doch das Herz ging ihr vor allem bei spontanen Begegnungen mit den Menschen auf. Die hat sie auch in ihrem Blog in den Mittelpunkt gestellt. Schließlich sei „alles schon schwierig genug, da braucht es nicht noch immer neue Superlative von schlimm“. Und so heißt es in ihren Notizen unter anderem: „Große Freundlichkeit und offene Freude über den Gast aus Deutschland. Und das Bemühen, helfen zu wollen.“ Straßenverkäufer Igor, der aus dem Kofferraum heraus Piroggen feilbietet, schenkt ihr zum Abschied zwei Teigtaschen. Im Dorfladen wird ihr Versuch, sich auf Russisch zu artikulieren, umgehend honoriert. Die Russen schauten zwar meist „sehr verschlossen, sehr distanziert, sehr deutsch“. Dennoch sei ihre Gastfreundschaft kein Klischee. Man müsse sie sich nur erst erarbeiten. „Das ist das Bild, das ich aus Russland mitnehme.“

Tino Künzel

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: