Protestanten im Ural: Mit Gott, ohne Haus?

In Jekaterinburg gibt es 65 orthodoxe Kirchen – und ein Gotteshaus für Protestanten. Wie ergeht es lutherischen Gemeinden in einer Umgebung, die sich gegen den Bau von Kirchen wehrt?

Unterschiedliche Welten in der Nachbarschaft: Während Sergej Git (l.) bald seine Kirche eröffnen wird, empfängt Jewgenij Stricker (r.) die Gläubigen weiterhin in der alten Villa. (Fotos: Ljubawa Winokurowa)

Im Frühjahr 2019 erregte Jekaterinburg landesweit Aufmerksamkeit, als viele Einwohner der Uralmetropole auf die Straße gingen, um gegen einen geplanten orthodoxen Kirchenneubau zu protestieren. Tag und Nacht hielten die Menschen Mahnwachen ab und hatten damit Erfolg. Die Kirche musste schließlich an einem anderen Ort errichtet werden. Es war eine Situation, die die Protestanten der Stadt nur allzu gut kennen. Schließlich erlebten sie 2015 dasselbe. Mit einem Unterschied. Sie fanden kein neues Grundstück für ihre Kirche. 

Aufbau mit deutscher Hilfe

Die protestantische Gemeinde von Jekaterinburg ist noch recht jung. Sie gibt es erst seit den 1990ern. Nach dem Ende der Sowjetunion kamen damals die ersten Geistlichen aus Deutschland. Und fanden hier gute Voraussetzungen. Denn der Ural war Verbannungsort für viele Russlanddeutsche, deren Kinder zwar nicht die Sprache, dafür aber ihren Glauben bewahrt hatten. Treffpunkt der Deutschen waren Wohnungen, in denen auch die Kinder getauft wurden. Die Pfarrer aus Deutschland mussten also alles nur noch „legalisieren“. Und das mit Erfolg. Heute gibt es in der Gegend rund um Jekaterinburg drei protestantische Gemeinden. Diese sind zwar klein, machen sich aber im sozialen Leben der Städte bemerkbar. 

Einer, der vor vielen Jahren die „Heimtaufe“ von seiner Großmutter erhalten hat, ist Jewgenij Stricker. Er selbst hatte das für viele Jahre vergessen und ging den Weg von „der Verleugnung zur Akzeptanz“, wie er sagt. Heute ist Stricker Vorsteher der protestantischen Gemeinde von Jekaterinburg. Ab April wird er Pfarrer sein. „Ich finde niemanden, der den Vorsitz übernehmen möchte. Und beide Ämter gleichzeitig auszuführen, ist sehr schwer. Die Gemeinde hat versprochen, mich zu unterstützen, leiten möchte sie aber niemand“, klagt Stricker. Die Gemeinde hat ihr Zentrum in einer Kaufmannsvilla aus dem 19. Jahrhundert im Stadtzentrum. Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier eine Kirche ist. Denn einen Glockenturm gibt es nicht. Das lässt der Denkmalschutz nicht zu. 

Vor sechs Jahren wollte die Gemeinde auf dem ehemaligen protestantischen Friedhof eine richtige Kirche bauen. Die Stadt hatte bereits zugestimmt. Und in der ganzen Welt spendeten Menschen Geld für das Gotteshaus. Doch zum Kirchenbau von Jekaterinburg sollte es nicht kommen. Denn die Anwohner waren dagegen. Sie fürchteten, dass hier ein historischer Ort zerstört werden soll. Wie 2019 hielten sie auch damals Tag und Nacht Mahnwachen ab und erreichten einen Baustopp.

Jekaterinburger Kirche wurde Opfer von Protesten

Dann forderte die Stadt auf einmal archäologische Untersuchungen und die Kirchengemeinde begann damit – auf eigene Kosten. „Wir haben kurz danach verstanden, dass das ein endloser Prozess ist. Alle für die Kirche gesammelten Gelder wären für die historische Untersuchung draufgegangen. Deswegen haben wir sie eingestellt und entschieden, dass Gott an diesem Ort keine Kirche will“, sagt Stricker. So blieben die Trümmer des Friedhofs unangetastet und die Gemeinde kaufte sich die historische Villa im Stadtzentrum. 

Dort gibt es im Erdgeschoss einen Begegnungsraum, für Bibelstunden zum Beispiel. Daneben befindet sich ein kleiner Saal, in dem Jugendliche Tischtennis spielen. Eine Etage darüber liegen der Saal für die Gottesdienste und ein Kinderzimmer. Im Dachgeschoss hat der Pfarrer sein Arbeitszimmer, dazu eine kleine Küche und ein Wohnzimmer. Hier können Menschen in Notsituationen übernachten. Die Gemeinde hat gut 30 Mitglieder, zumeist ältere Männer. Es gibt eine kleine Jugend- und eine Kindergruppe. In der Villa fühlen sich alle wohl, Proteste oder einen Rauswurf fürchtet hier niemand, so Stricker.

Am Waldrand entsteht eine neue Kirchenheimat

Im Vorort Berjosowskij sieht die Welt ganz anders aus. Auch hier wohnen viele Russlanddeutsche mit einer eigenen Gemeinde. Deren Vorsteher Sergej Git hat gerade viel zu tun. Jeden Tag besucht er die Baustelle in einem Wald am Stadtrand. Hier entsteht der einzige protestantische Kirchenneubau jenseits des Urals. „Ich weiß nicht, warum wir so viel Glück hatten. Vielleicht wollte Gott, dass an dieser Stelle eine Kirche steht“, sagt Git. Mit „Glück“ meint er, dass die Anwohner hier nicht protestieren und die Stadt wie lokale Unternehmen das Projekt unterstützen. 

Mit dem Bau des Gotteshauses hat die Gemeinde im September begonnen. Damals war der Skandal in Jekaterinburg noch sehr frisch. Sie befürchteten, dass auch sie der Zorn treffen könnte. „Für den Bau mussten wir 70 Kiefern fällen. Wir hatten große Angst, dass irgendwelche Baumfreunde kommen und die Baustelle lahmlegen.“ Es kam aber niemand. Jetzt schreiten die Bauarbeiten schnell voran. „Wir haben dieses Jahr einen warmen Winter. Deswegen sind die Bauarbeiter jeden Tag hier“, erklärt Git.

Die gesamte Summe für den Bau konnte die Gemeinde nicht sammeln. Aber einige Unterstützer helfen mit Materialien, Technik oder Arbeitskraft. Wenn es so weitergeht, kann die Kirche im Herbst eingeweiht werden. Das im norddeutschen Stil gehaltene Gotteshaus soll dann 50 Gläubige aufnehmen können. „So viele Mitglieder haben wir gar nicht. Aber vielleicht finden wegen des Gebäudes ein paar neue den Weg zu uns“, meint Git. Und hofft auf ein reges Gemeindeleben in der neuen Heimat. 

Ljubawa Winokurowa

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