„Für uns ist das wie ein Schatz“

Ist es eine eigene Sprache oder ein deutscher Dialekt? Sicher ist: Plautdietsch ist eine Variante des Niederdeutschen, Mennoniten haben sie einst ins Russische Reich gebracht. Wo Plautdietsch heute noch lebendig ist, wird es mit Liebe gepflegt.

Sprachwissenschaftlerin Ekaterina Liebert (Mitte links) zu Gast bei den Kindern und Jugendlichen in Neudatschino (Foto: Privat)

„Morjes, Tjinja!“ – „Morjes, Sara Petrowna!“ So klingt es, wenn Sara Töws und die zehn Kinder ihres Sprachclubs in Neudatschino sich begrüßen. Man hätte vielleicht noch eher einen hessischen oder schwäbischen Dialekt erwartet hier zwischen Omsk und Nowosibirsk in Westsibirien, doch die Pädagogikstudentin spricht Platt. Ein knappes Drittel der 556 Einwohner des Dorfes spricht die Sprache, die sich Plautdietsch nennt. Und zehn der kleinsten treffen sich bei Sara Töws im Plautdietschen Sprachclub in der Dorfschule.

Sara ist selbst hier aufgewachsen, Plautdietsch ist ihre Muttersprache. So war sie die ideale Besetzung, als 2018 der Internationale Verband der Deutschen Kultur (IVDK) grünes Licht gab, die Einrichtung eines Sprachclubs zu unterstützen. „Für uns ist das wie ein Schatz“, sagt Elisabeth Steffen, die seit Jahrzehnten an der Schule Deutsch unterrichtet, „denn der Dialekt geht in den letzten Jahren mehr und mehr verloren. Vielleicht werden so die Kinder noch etwas davon behalten.“

Ursprünge im Weichseldelta

Dabei waren am Ende der Sowjetzeit noch fast alle Einwohner von Neudatschino Plautdietsche. Wie viele andere Russlanddeutsche leben die meisten von ihnen heute in Deutschland. Doch ihre Geschichte unterscheidet sich grundlegend von der Mehrheit der Deutschen in Russland. Und sie ist, wie auch ihre Sprache, unmittelbar mit ihrem mennonitischen Glauben verbunden.

Viele von ihnen siedelten sich im 16. und 17. Jahrhundert im zu Polen gehörigen Weichseldelta an, wo sie Religionsfreiheit genossen. Und dort ist die Wiege der Plautdietschen Sprache. Als das Siedlungsgebiet Ende des 18. Jahrhunderts an die Preußische Krone fiel, sahen sich die Mennoniten zur Auswanderung gezwungen. Ihre pazifistische Theologie war nicht mit dem Militärstaat Preußen vereinbar. Sie fanden eine neue Heimat im Zarenreich, wo ihnen neben Religionsfreiheit auch die Befreiung vom Militärdienst garantiert wurde.

Viele wanderten nach Amerika aus

Um die 100.000 Menschen waren es, so die Historikerin Oksana Besnosowa, die damals zunächst in die heutige Ukraine übersiedelten. Sie bildeten eigene Kolonien und blieben weitgehend unter sich. Weitere Siedlungen entstanden in den Regionen Samara und Orenburg, auf der Krim und in Sibirien, so auch Neudatschino.

Doch schon in den 1870er Jahren zog es erste Russlandmennoniten wieder fort. Die Militärreform sah nun doch den Wehrdienst für alle vor. Und obwohl gar ein Ersatzdienst für die Mennoniten geschaffen wurde, verließen viele das Land in Richtung Amerika, wie Oksana Besnosowa berichtet. Noch mehr folgten schließlich nach der Oktoberrevolution. Kanada, die USA, Mexiko, Brasilien und Paraguay waren ihre Ziele.

Noch etwa 2000 Plautdiesch-Sprecher in Russland

Die strenger Gläubigen emigrierten zuerst, wer sich dagegen mit dem sozialistischen Regime arrangieren konnte, neigte eher zum Bleiben. So sind die Mennoniten in Lateinamerika heute deutlich konservativer. Ähnlich den Amish People lehnen sie jegliche moderne Technik ab. „Die Mennoniten in Russland sind da anders. Die Jugend will auch meist keine Trachten mehr tragen, ganz im Gegensatz etwa zu Para­guay“, sagt Oksana Besnosowa.

Wie viele Plautdietsch-Sprecher heute noch in Russland leben, sei nur schwer zu ermitteln, so die Historikerin: „Bei der letzten Volkszählung bekannten sich im ganzen Land vier Personen als Muttersprachler.“ Noch immer trauen sich offenbar viele nicht, sich zu ihren deutschen Wurzeln zu bekennen. Die Repressionen der Sowjetzeit wirken nach. „Es dürften aber grob 2000 sein“, fügt sie hinzu.

Plautdietsch als gemeinsame Basis

Eine davon ist Nadja Kalinina. Die Redakteurin der Website „rusdeutsch.de“ wurde im Dorf Podolsk in der ehemaligen Mennonitenkolonie Neu-Samara in der Region Orenburg geboren. „Wir lebten bei den Großeltern, unsere Umgangssprache zuhause war Plautdietsch. Russisch lernte ich erst später im Kindergarten.“ Wenn sie heute ihre Mutter besuche, mache es sie fast ein wenig traurig. „In meiner Kindheit konnte ich dort fast auf jedem Hof meine Muttersprache hören, heute sind fast alle ausgewandert.“ Die Architektur, das Museum und einige ältere Bewohner erinnern noch an früher. „Und dann freut es mich doch immer wieder, wenn ich auf der Straße oder in einem Geschäft ein bekanntes Gesicht treffe und ein wenig Plautdietsch sprechen kann.“

Das kann sie übrigens auch in Deutschland, wie sie erzählt: „Oft können die Kinder der dortigen Verwandten nur Deutsch und Plautdietsch. Meine Nichten in Russland wiederum sprechen nur Russisch und Plautdietsch. Also ist unsere Umgangssprache bei Besuchen immer Plautdietsch. Ja, auch mit unseren Verwandten in Kanada sprechen wir so.“ Und was für Nadja besonders faszinierend war, sie kann auch mit Menschen aus dem fernen Sibirien in ihrem heimischen Plautdietsch sprechen. „Ich war 2012 dort zum ersten Mal dienstlich und habe seither viele Leute kennengelernt. Pädagogen haben dort eigene Materialien für den Kindergarten erarbeitet“, berichtet sie begeistert.

Ein Leseheft für Muttersprachler

In Solnzewka in der Region Omsk zum Beispiel wurde im Kindergarten zunächst Hochdeutsch angeboten. Doch die Kinder sprachen mit den Pädagogen stets Plautdietsch. Daher hat man sich dazu entschieden, ihre Muttersprache aufzugreifen, auf spielerische Art und Weise.

Ein eigenes Leseheft in Plautdietsch hat schließlich die Germanistin Ekaterina Liebert aus Nowosibirsk herausgegeben. „Ich habe es schon 2017 zusammen mit meinem wissenschaftlichen Lehrer und Freund Igor Kanakin geplant. Doch dann erkrankte er schwer und in meiner Trauer dachte ich, ich würde das nie alleine schaffen“, sagt sie. Doch dann haben ihr Leute aus den Dörfern Hilfe angeboten und haben ihr Texte als Sprachnachrichten geschickt.

Auch eine CD ist geplant

„Da stand ich schon vor dem nächsten Problem: Wie schreibt man Plautdietsch?“ Ekaterina holte sich Hilfe in Deutschland. „Der Germanist Heinrich Siemens, selbst Plautdietscher, hat ein Schriftsystem entwickelt, das sich eng ans Deutsche anlehnt. Er hat die Texte korrigiert.“

Die Kinder des Plautdietsch-Clubs in Neusatschino (Foto: Privat)

Siemens hat das Heft dann auch gleich in seinem Verlag in Bonn herausgegeben. Und in Neudatschino arbeitet Sara Töws auch damit. Doch einige der Muttersprachler tun sich mit den Schreibweisen schwer, so Ekaterina Liebert. „Es ist nun einmal eine gesprochene Sprache.“ Deshalb wird sie das Material bald auch als CD herausgeben. „Die Aufnahmen sind schon fertig“, sagt sie.

Der Sprachclub zeigt derweil Wirkung. „Sara, du machst zu viel“, bekam die Leiterin des Clubs jüngst von ihrer Kollegin zu hören, „deine Kinder sprechen bei mir im Deutschunterricht dauernd auf Plautdietsch!“

Jiří Hönes

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