Mariupol und andere: Die Städte hinter den Nachrichten

Die Frontberichte haben ihnen zu trauriger Berühmtheit verholfen. Aber Mariupol, Lissitschansk und Bachmut im Donbass stehen nicht nur für Tod und Zerstörung. Sie haben eine lange Geschichte. Was sind das für Städte?

Das Zentrum von Lissitschansk mit dem Kino Druschba und dem Springbrunnen auf einem Foto vom Herbst 2022 (Foto: RIA Novosti/Viktor Antonjuk)

Mariupol

Früher konnte man nichts falsch machen, wenn man das industrielle Herz des Donbass in Mariupol verortete. Gleich zwei Metallurgie­giganten – das Iljitsch-Kombinat und Asowstal – waren zu Sowjetzeiten das Erste, woran man dachte, wenn man den Namen der Stadt hörte. Sie haben für einen gewissen Wohlstand gesorgt, den Großteil der in der Spitze über 500.000 Einwohner beschäftigt und die Luft verpestet.

Dabei ist Mariupol keine typische, sondern eine gänzlich ungewöhnliche Stadt für den Donbass. Während anderswo zuerst ein Großbetrieb da war und um ihn herum ein Ort für seine Arbeiter entstand, war es hier, am Ufer des Asowschen Meeres, umgekehrt. Die Hafenstadt bezieht ihre Daseinsberechtigung mitnichten aus ihrem wirtschaftlichen Potenzial. Erste Siedlungen wurden hier schon lange vor unserer Zeitrechnung errichtet. Ab dem 16. Jahrhundert reklamierten die Saporoscher Kosaken und die Krimtataren die Gegend abwechselnd für sich.

1778, nun unter russischer Herrschaft, begann die neuzeitliche Geschichte der Stadt. Unter Katharina der Großen füllte sie sich schnell mit Griechen von der Krim. Die Zarin wollte den Süden ihres Reiches einerseits in blühende Landschaften verwandeln, andererseits dort für berechenbare Verhältnisse sorgen. Da kamen ihr die christlichen Griechen gerade recht. Ähnlich den Deutschen an der Wolga wurden sie mit handfesten Privilegien nach Mariupol, die Marienstadt, gelockt.

Noch über hundert Jahre später stellten die Griechen die Mehrheit der Stadtbevölkerung. Und bis in die jüngste Zeit hinein war mit Juri Chotlubej ein ethnischer Grieche langjähriger Bürgermeister (1998-2015).

Als in den 1880er Jahren die Eisenbahn nach Mariupol kam, der Hafen gebaut wurde und ein rasanter wirtschaftlicher Aufschwung einsetzte, strömten ausländische Investoren in die Stadt, wurden Konsulate und Handelsvertretungen eröffnet. Auch die Anfänge der Metallurgie reichen in diese Zeit zurück. Mariupol wurde zur Stadt von Welt, allerdings nicht für lange. In der Sowjetunion verblasste ihr Charme zusehends. Was nun zählte, waren die proletarischen Muskeln und stählerne Nerven.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die zeitweise von den Deutschen besetzte Stadt zu 85 Prozent zerstört. Und nun, 80 Jahre später, liegt sie wieder am Boden. 2014, nach dem „Euromaidan“ in Kiew, hatten Anhänger einer „Föderalisierung“ der Ukraine wochenlang demonstriert, die Stadtverwaltung besetzt und Flaggen der „Volksrepublik Donezk“ auf Gebäuden staatlicher Einrichtungen gehisst. Nach einer bewaffneten Auseinandersetzung mit Toten und Verletzten übernahmen ukrainische Sicherheitskräfte jedoch wieder die Kontrolle in der Stadt, kurz bevor im Donbass ein Referendum über die Eigenständigkeit der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk abgehalten wurde.

Mariupol blieb letztlich in der Hand Kiews, war jedoch eines der ersten Ziele von Russlands „Sonderoperation“, die im Februar 2022 begann. Nach wochenlangen Kämpfen wurde das, was davon noch übrig war, „befreit“, so die offizielle Diktion. Während das kaputte Iljitsch-Werk wieder aufgebaut werden soll, ist Asowstal nach den Worten russischer Offizieller Geschichte. Dort soll ein Industriepark entstehen.

Ein Außenbezirk von Mariupol. Im Hintergrund sind die Ruinen von Asowstal zu sehen. (Foto: RIA Novosti/Jewgeni Bijatow)

Lissitschansk

Menschen auf der ganzen Welt haben Lissitschansk in den letzten Monaten aus einer Kameraperspektive kennengelernt. Zum Glück war es keine Reporterkamera. Der dänische Filmemacher Simon Lereng Wilmont hat dort in den zurückliegenden sechs Jahren zwei vielfache preisgekrönte Dokumentationen gedreht. Die zweite, „A House Made of Splinters“, war in diesem Jahr für einen Oscar nominiert.

Aus dem Blickwinkel einer Sozial­einrichtung, die Kinder aus prekären Familienverhältnissen ein vorübergehendes Obdach bietet, werden in dem Film Kriegsschäden offenbar, die sich im Verborgenen abspielen. Eltern, die den Halt verloren haben und Zuflucht im Alkohol suchen, Kinder, die einfach nur Kinder sein wollen und bis zuletzt hoffen, wieder nach Hause zu können. Sozialarbeiterinnen, die sich liebevoll um sie kümmern. Anderthalb Jahre hat Wilmont in Lissitschansk gedreht, jeden zweiten Monat war er dort und hat es geschafft, dass die Kinder sich so ungezwungen verhalten, als sei die Kamera überhaupt nicht da.

Von der Stadt selbst ist im Film kaum etwas zu sehen, doch die Schicksale seiner Protagonisten, selbst seiner Antihelden, machen neugierig. Lissitschansk liegt im Norden der Region Lugansk. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten befand es sich unter ukrainischer Kontrolle. Doch ein großer Teil der 100.000 Einwohner, die hier bis zum 24.  Februar 2022 lebten, fühlte sich Russland, der russischen Kultur eng verbunden, stimmte bei Wahlen für „prorussische“ Oppositionsparteien. In Wilmonts anderthalbstündigem Dokudrama sprechen bis auf einen Polizisten alle Russisch, Kinder wie Erwachsene.

Im Frühjahr 2014 fiel Lissi­tschansk für mehrere Monate an Separatisten, bis es von der ukrainischen Armee zurückerobert wurde. Der Krieg im Donbass hat viele im Ort, der nur 20 Kilometer von der damaligen „Kontaktlinie“ entfernt war, arbeitslos gemacht und entwurzelt.

Dabei gilt die Stadt als „Wiege des Donbass“. Sie wurde bereits 1710 gegründet, wenige Jahre später begann ganz in der Nähe der Kohleabbau. Heute zeichnet sich Lissitschansk durch viel Grün und schöne Natur in einer Hügellandschaft aus. Doch die Kämpfe im Frühjahr 2022 haben starke Zerstörungen angerichtet. Im Juli nahm die russische Armee die Stadt ein. Bereits im Februar, einen Tag, nachdem Russland die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk anerkannt hatte, machten sich die Insassen des Sozialzentrums aus „A House Made of Splinters“ auf den Weg in westlichere Regionen der Ukraine.

Bachmut

Keine Stadt im Donbass hat mehr unter den Kämpfen zwischen Russland und der Ukraine gelitten als Bachmut. Seit August 2022 steht sie wegen ihrer strategischen Lage mehr oder weniger unter Dauerbeschuss und hat sich in eine Ruinenlandschaft verwandelt. Ihre vormals rund 70.000 Einwohner sind obdachlos geworden.

Aufnahmen aus der jüngeren Vergangenheit zeigen eine durchaus gepflegte und progressiv wirkende Stadt. Im Rahmen der „Entkommunisierung“, die in der Ukraine Staatspolitik ist, wurde sie 2015 in Bachmut zurückbenannt. So hatte sie bis 1924 geheißen, bevor die neue Sowjetmacht ihr den Namen Artjomowsk verpasste, zu Ehren des Revolutionärs und Lenin-Mitstreiters Fjodor „Artjom“ Sergejew. In russischen Medien und von offiziellen Quellen wie dem Verteidigungsministerium wird vielfach auch weiterhin die sowjetische Bezeichnung verwendet.

Bachmut, 90 Kilometer von Donezk entfernt, geht historisch auf einen Außenposten zurück, den Iwan der Schreckliche 1571 zum Schutz vor Angriffen der Krimtataren anzulegen befahl. Peter der Große ließ hier 1701 eine Festung errichten. Schon damals war Bachmut für seine reichen Salzvorkommen bekannt. Wirklich reich haben sie die Stadt aber nicht gemacht.

Im Zweiten Weltkrieg war auch Bachmut vom November 1941 bis zum September 1943 von der Wehrmacht besetzt. 2014 gehörte die Stadt kurz zur Volksrepublik Donezk. Inzwischen ist sie nahezu dem Erdboden gleichgemacht. 

Tino Künzel

Von Deutschen gegründet: New York

Im Donbass gibt es einen weiteren großen Namen, wenn ihn auch eine Kleinstadt trägt: New York. Der Ort unweit von Bachmut wurde einst von aus Deutschland eingewanderten Mennoniten gegründet. Wie die auf New York gekommen sind, ist nicht überliefert. Eine Theorie besagt, dass das von einer New-York-Reise eines örtlicher Fabrikanten namens Jakob Unger inspiriert wurde. Heute hat die Stadt 12.000 Einwohner, eine Chemiefabrik, eine Bahnstation, einen Park und einen deutschen Friedhof.

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