Weil Liebe stärker ist als Hass: Eine russisch-deutsch-finnische Geschichte über Krieg und Frieden

Russen, Deutsche und Finnen kämpften im Krieg auf verschiedenen Seiten. Oder wurden wegen ihrer Nationalität praktisch über Nacht zu inneren Feinden erklärt. Die Autorin und Journalistin Katha­rina Martin-Virolainen trägt alle drei schon im Namen, denn ihre Familiengeschichte ist russisch-deutsch-finnisch. In einem Essay für die MDZ schreibt sie über ihren letzten 9. Mai in Russland, wo sie aufgewachsen ist, und ihr heutiges Verhältnis zu diesem Tag in Deutschland.

Katharina Martin-Virolainen lebt heute in Eppingen. (Foto: Ksenia Soldatenko)

Mit meinen Kinderaugen

Fröhliche Kinderstimmen zerschneiden die Stille des Morgengrauens. Unsere Klasse marschiert über eine lange Straße zum Soldatengrab, das sich mitten in unserem karelischen Dorf Tschalna bei Petrosawodsk befindet. Die nelken­roten Bänder an Zweigen von Weidenkätzchen flattern mit unserer Fröhlichkeit um die Wette. Noch zwitschern wir, glücklich darüber, dass wir nicht die Schulbank drücken müssen, sondern als eine der ersten Klassen zum Soldatengrab dürfen. Nur die frühen Morgenstunden und die Kälte machen uns ein wenig zu schaffen. In Karelien kann es im Mai noch schneien, der Frühling lässt sich gern Zeit.

Vor dem Soldatengrab, wo 65 sowjetische Soldaten ihre letzte Ruhe fanden, hält unsere Lehrerin eine Rede. Sie erzählt von den Heldentaten der Sowjetsoldaten im Kampf gegen die bösen Faschisten. Solche Geschichten sollen auch uns mit Stolz erfüllen: auf unsere Heimat und unseren Sieg im Großen Vaterländischen Krieg.

Der 9. Mai war in Russland ein fester Bestandteil unseres Lebens. In der Schule und im Kulturhaus wurden Konzerte veranstaltet. Wir sangen gemeinsam „Den Pobedy“ (Tag des Sieges) oder „Katjuscha“, tanzten zu „Sinij Platotschek“ (Das blaue Tuch), rezitierten lauthals Gedichte und lasen aus den Erinnerungen der Kriegsveteranen vor. Im Fernsehen liefen ununterbrochen Filme und Sendungen über den Zweiten Weltkrieg. Einen Film mochte ich besonders: „Im Morgengrauen ist es noch still“. Er war schließlich bei uns in Karelien gedreht worden!

Doch da gab es etwas, was jeden 9.  Mai an mir innerlich kratzte: mein deutscher Familienname. Durfte ich mich als Deutsche Katharina Martin überhaupt an dieser Freude und diesem Stolz beteiligen?

Gott sei Dank hatte ich auch einen russischen Vorfahren, der im Krieg für die Sowjetunion kämpfte. Mein Urgroßvater Michail Kolynin aus dem Dorf Orlowo, Oblast Wologda, kam im Jahr 1941 an die Leningrader Front. Die Kämpfe, schwere Verwundungen und wochenlange Aufenthalte im Lazarett hinterließen ihre Spuren. Bis zu seinem Tod 1962 erzählte er immer wieder davon, wie schrecklich die Kriegstage gewesen seien. 

An der Front gegen Deutschland: der russische Urgroßvater Michail Kolynin (Foto: Privat)

Die Geschichte meines russischen Urgroßvaters gewährte mir damals einen kleinen Anspruch auf Zugehörigkeit. Doch da gab es auch eine andere Seite. Wie meine deutschen und finnischen Vorfahren den Krieg erlebten, erfuhr ich erst viel später. Bis dahin blieben sich für mich und meinen 9. Mai unsichtbar.

Deportiert und erschossen

Mein deutscher Urgroßvater Ewald Nickel war nicht an der Front. Geboren wurde er in Wolhynien, in der Ukraine. Am 1. Juli 1936 wurden alle Bewohner seines Dorfes Dubowaja, wie viele andere Deutsche und Polen aus Wolhynien, in Viehwaggons nach Kasachstan deportiert und in der kahlen Steppe ausgesetzt. Die ersten Jahre litten die Menschen große Not. Ihr Leben war geprägt von Hunger, Krankheiten, Kälte, schwerer Arbeit und Verlusten. Mein Urgroßvater wurde  – wie viele andere deutsche Männer damals auch – 1942 in die Trudarmee eingezogen, aus der er erst 1946 zurückkehrte.

Der deutsche Urgroßvater Ewald Nickel (hinten links) mit Familie (Foto: Privat)

Mein finnischer Urgroßvater Simo Virolainen starb, da hatte der Krieg noch gar nicht begonnen. Im Januar 1938 kam sein drittes Kind zur Welt  – Alexander, mein Großvater. Einen Monat später wurde Simo mit anderen Männern aus seinem Dorf verhaftet, wegen angeblicher konterrevolutio­närer und anti­sowjetischer Tätigkeit verurteilt und im Sommer 1938 bei Leningrad erschossen. Seine Frau Maria und seine drei Kinder wurden 1942 nach Sibirien deportiert. Meine Urgroßmutter erlag einer Lungenentzündung, nachdem sie in den eisigen Jenissej gestiegen war, um einen Sack Mehl herauszuholen. Mein damals vierjähriger Großvater, sein achtjähriger Bruder Iwan und seine zwölfjährige Schwester Jekaterina blieben als Waisen zurück.

Der Krieg war eine grauenvolle Zeit, in der sich ganze Länder und Völker gegenseitig hassten. Russen und Deutsche. Russen und Finnen. Sie waren Feinde, Verbrecher, Schuldige, Verräter, Täter, Opfer … Alles vermischte sich im schwarzen Kessel menschlicher Schicksale. Das traf auch auf meine Vorfahren zu. Jeder von ihnen erlebte den Krieg auf seine eigene tragische Art und Weise.

Im Land der Feinde von gestern

Hätte sich mein russischer Urgroßvater, der damals gegen Deutschland kämpfte, jemals vorstellen können, dass wenige Jahrzehnte später seine Enkelin einen Deutschen heiraten wird? Dass seine Urenkel in Deutschland aufwachsen, seine Ururenkel in Deutschland geboren und dieses Land als ihre Heimat betrachten werden? Wohl kaum. Doch das Schicksal macht, was es will.

Im Jahr 1997 bekam der 9. Mai für unsere Familie eine weitere Bedeutung. An diesem Tag erhielten wir unseren Aufnahmebescheid als Spätaussiedler und wanderten im August 1997 nach Deutschland aus.

1997 ging es für Familie Martin von Karelien nach Deutschland. (Foto: Privat)

Dort rückte der 9. Mai völlig in den Hintergrund, verschwand in einer Art Grauzone. In Deutschland gab es den großen Siegestag nicht. In den Medien wurde zwar vom Kriegsende gesprochen, hier und da fanden Gedenkveranstaltungen statt, aber das schien weit weg zu sein. Mit der Zeit wurde dieser Tag für mich immer unscheinbarer, als würde ich ihn kaum noch wahrnehmen. „Ach, heute ist ja der 9. Mai“, stellte ich meist erst beim Blick in den Kalender fest. Keine tagelangen Vorbereitungen, keine Feiern, keine Kranzniederlegungen, keine Lieder und keine Tänze. Lediglich der alte Film „Im Morgengrauen ist es noch still“ blieb mir als Brücke zu meinen Kindheitserinnerungen erhalten.

Mit den Jahren habe ich verstanden, dass man zum Gedenken auch keine aufwendigen Feiern braucht, sondern es auf das Bewusstsein ankommt, welche Bedeutung dieser Tag hat. Im Krieg haben alle gelitten. Es gibt kein Mehr und kein Weniger. Man darf menschliche Schicksale nicht auf die Waage legen. Der Krieg ist ein Monster mit vielen hässlichen Fratzen, das rücksichtslos und gnadenlos alles auf seinem Wege verschlingt. Selbst die Sieger müssen einen hohen Preis zahlen.

Der Zweite Weltkrieg hat das Leben meiner Vorfahren geprägt und ihre Schicksalswege bestimmt. Und ohne diese Schicksalswege hätte es mich wohl nicht gegeben. Trotz der noch lange anhaltenden Vorurteile gegenüber den ehemaligen Kriegsfeinden, den Finnen und den Deutschen, hat meine russische Großmutter 15 Jahre nach Kriegsende meinen finnischen Großvater geheiratet. Meine Mutter legte „noch einen drauf“ (wie sie immer sagt) und heiratete meinen deutschen Vater.

Für mich ist der 9. Mai heute nicht nur ein Tag des Gedenkens, sondern auch der Versöhnung. Trotz all der bitteren Erlebnisse in und nach der Kriegszeit sind meine Urgroßeltern und Großeltern nie verbittert. Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen, haben weder sie noch meine Eltern je einen Menschen nach seiner Natio­nalität, Herkunft, nach kultureller oder religiöser Zugehörigkeit beurteilt. Und meine Existenz ist wohl der beste Beweis dafür, dass Liebe und Menschlichkeit alles überlebt. Sogar einen Krieg.

Katharina Martin-Virolainen

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