Am 2. Juni 2020 war es offiziell: „Julia Aljoschina“ stand im Pass, den eine damals 30-jährige Juristin aus dem sibirischen Barnaul ausgestellt bekam. 1990 war sie als Roman Aljoschin geboren worden, bezeichnete sich nun aber als transsexuell. Zu den genauen Hintergründen ist wenig bekannt. Aus den Interviews, die russische und ausländische Medien später mit Aljoschina geführt haben, die vom Herbst 2021 bis zum Herbst 2022 den Verband der Partei Bürgerinitiative in der Altai-Region leitete, lassen sie sich nicht rekonstruieren.
Coming-out rückwärts
Und die Betroffene selbst spricht mittlerweile auch nicht mehr gern darüber. Seit Mitte Mai hat ihr Telegram-Kanal ein neues Profilbild und einen neuen Namen: Aljoschin. In einem Eintrag heißt es: „In der Fastenzeit ist mir bewusst geworden, dass ich ein Mann bin.“ Der „Patriot meines Landes“ bittet „beim gesamten russischen Volk“ um Entschuldigung. Wofür genau, bleibt offen.
Der jüngste Telegram-Post ist an Kirchenpatriarch Kirill gerichtet. Und auch dem Barnauler Internetportal Bankfax hat Roman Aljoschin, wie er nun wieder angesprochen werden möchte, gesagt, er wolle sich zum Priester ausbilden lassen. Sein Geschlecht geändert zu haben, sei wohl eine Strafe für „Sünden der Vorfahren“ gewesen, aber diese „Heimsuchung“ habe er überwunden.
Gesetzliche Verbote
In Russland ist seit Juli 2023 ein Gesetz in Kraft, das Geschlechtswechsel untersagt. Es wurde von beiden Kammern des Parlaments einstimmig verabschiedet. Bereits seit Dezember 2022 ist die „Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen, von Geschlechtswechseln und Pädophilie“ verboten.
Frühere Einträge bei Telegram, die Aljoschin noch als Aljoschina verfasste, hat er nicht gelöscht. So lässt sich nachvollziehen, wie er die Gesetzeslage kommentierte. Nämlich beispielsweise so: „Viele Leute sind sehr konservativ, sie wissen nichts über Transgender und sind negativ zu ihnen eingestellt. Die Partei der Regierenden hat das Gesetz über das Verbot des Geschlechtswechsels beschlossen, um sich damit beliebt zu machen und so lange wie möglich an der Macht zu bleiben.“
„Enttäuscht von liberaler Ideologie“
So ließ sich Aljoschina im September 2023 von der „Washington Post“ zitieren. Zwei Monate davor sagte sie AFP: „Die Machthaber bekämpfen eine kleine Gruppe, die ohnehin schon Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt war.“ Homophobie und Transphobie nähmen in Russland zu.
Nach dem „Propaganda“-Verbot legte Aljoschina 2022 ihr Parteiamt nieder. Auch aus einer erwogenen Kandidatur bei der Gouverneurswahl 2023 wurde nichts. Anfang des Jahres folgte der Austritt aus der Partei Bürgerinitiative aus, so Aljoschin gegenüber Bankfax, „Enttäuschung über die liberale Ideologie“. Er will nun mehr beten.
Tino Künzel