Nobody‘s Darling: Zur polnischen Sicht auf Russland

Russland und Polen waren in ihrer Geschichte oft genug ziemlich beste Feinde. Auch heute könnte das Verhältnis, gelinde gesagt, besser sein. Was sagt einer dazu, der von Berufs wegen für den Dialog zuständig ist? MDZ-Autorin Jacqueline Westermann traf sich in Warschau mit Ernest Wyciszkiewicz, dem Direktor des Zentrums für polnisch-russischen Dialog und Verständigung.

Um etwas provokativ zu beginnen: Haben Sie momentan angesichts der politischen Lage überhaupt etwas zu tun?

Das werde ich ständig von Journalisten gefragt: Sie sind der Direktor des Zentrums für polnisch-russischen Dialog – wo ist denn der Dialog? Den gibt es! Russland ist ja nicht nur Putin oder die Regierung, man findet viele Partner, die an einem ehrlichen Dialog vor allem über unsere gemeinsame Geschichte, aber auch über Kultur, Politik und die Jugend interessiert sind.

Haben Sie in Ihrer Heimat mit starken Widerständen zu kämpfen? In Polen sollen die Vorbehalte gegenüber Russland besonders groß sein.

Die sogenannte „Russophobie“? Ich denke nicht, dass viele Polen Angst vor Russland haben. Es sind die russischen politischen Positionen, an denen Anstoß genommen wird. Generell bin ich kein großer Fan von Labeln. Leider hat die missbräuchliche Verwendung dieses Begriffes in Bezug auf Polen in russischen Medienoutlets zugenommen. Das heißt, für Russland ist jeder russophob, der die russische Politik kritisiert. Kritik ist aber keine Phobie.

Was ist Russland für Sie selbst?

Ein Gegenstand meiner Forschung. Ich bin nicht der Typ, der von Tschechow, Puschkin oder Dostojewskij fasziniert war und sich deshalb mit Russland beschäftigen wollte. Das sehe ich ganz professionell. Ich habe als politischer Analyst mit Schwerpunkt russische Außenpolitik gearbeitet und meine Gewohnheiten aus dieser Zeit nicht abgelegt.

Illustration der bilateralen Beziehungen: Polnische Bauern bleiben wegen der Sanktionen und Gegensanktionen auf ihren Äpfeln sitzen, die sie nicht nach Russland liefern können. / RIA Novosti

Welche Veränderungen beobachten Sie in Polen, was das Verhältnis zu Russland betrifft?

Auch wenn Russland nie besonders beliebt in Polen war, wurde doch bis 2014 immer sehr deutlich zwischen dem russischen Staat und der russischen Bevölkerung unterschieden. Das ist jetzt nicht mehr so. Umfragen zeigen, dass inzwischen alle Russen irgendwie verantwortlich gemacht werden.

Wie reagieren Sie auf diese neue Sicht?

Ich werde oft gefragt, warum ich als Direktor des Zentrums, das den Dialog fördern soll, russische Politik kritisiere. Nun, dies ist nicht das Zentrum für Polen-Putin-Dialog, sondern für polnisch-russischen Dialog, und Russland ist mehr als Putin. Deswegen motivieren wir Russen, zu unserem Onlinemagazin beizutragen und so ihre Standpunkte aufzuzeigen.

Auf der Webseite des Zentrums formulieren Sie als Ziel Ihrer Organisation, dass „optimale Bedingungen für die Entwicklung russisch-polnischer Beziehungen“ entstehen. Was wäre denn optimal?

Optimal wäre ein Nachbar, der ehrlich interessiert ist an Kooperation, an Win-Win-Lösungen, an einer Abkehr von Nullsummen-Erwartungen. Optimal wäre natürlich ein demokratisches, pluralistisches Russland. Für beide Seiten ist es schwierig, auch für uns Polen, alles Unangenehme aus der Vergangenheit auf den Tisch zu legen. Ohne eine Analogie erzeugen zu wollen, kann man hier auf Deutschland blicken. Ich würde gern diesen nüchternen Erkenntnis- und Anerkennungsprozess sehen. Wenn keine Versöhnung zu erreichen sein sollte, dann vielleicht zumindest etwas Verständnis.

Das Zentrum ist eine staatliche Einrichtung, gegründet 2011. Hat sich Ihre Arbeit seit dem Regierungswechsel in Polen 2015 verändert?

Die politische Szene in Polen ist klar polarisiert. Aber bei einigen Themen herrscht Konsens, und eines davon ist die Haltung gegenüber Moskau. Vielleicht werden verschiedene Akzente gesetzt, aber die Substanz ist die gleiche. Geändert hat sich vieles seit 2014, weil sich Russland geändert hat.

Wie zeigt sich das in Ihrer Arbeit?

Die ursprüngliche Idee war eine Zwillingsstrategie. Zentren für den Dialog wurden in Moskau und Warschau eröffnet. Wir begannen früher mit der Arbeit und konnten zahlreiche Projekte auf den Weg bringen: Jugendaustausch, Stipendien für russische Wissenschaftler mit Interesse am Studium der polnisch-russischen Beziehungen, Veröffentlichungen und gemeinsame Forschungsprojekte mit dem Ziel, weiße Flecken in unserer gemeinsamen Geschichte aufzuarbeiten. Seit der Annektierung der Krim und weiterer russischer Aktionen, die darauf folgten, ist die Kooperation mit staatlichen Institutionen in Russland schwieriger geworden, der Zugang zu den nationalen Archiven begrenzter und das russische Interesse an gemeinsamen Projekten auf ein Minimum reduziert. Das berüchtigte NGO-Gesetz in Russland hat  die Sache auch nicht einfacher gemacht. Besorgt waren wir vor allem, dass der Jugendaustausch zusammenbrechen könnte.

Auf den sind Sie besonders stolz.

Weil er ein absolutes Novum in den polnisch-russischen Beziehungen ist. Als Vorbild diente hier der Erfolg des deutsch-polnischen Jugendaustauschs. Anfang der 1990er Jahre ergaben Umfragen, dass 80 Prozent der Polen den deutschen Nachbarn misstrauten, lediglich 18 Prozent den Russen. Heute ist es genau andersherum, was zeigt, wie sehr die russische Politik polnische Einstellungen beeinflussen kann. Umso wichtiger sind Investitionen in jüngere Generationen. Über 5.000 junge Polen und Russen haben seit 2012 schon daran teilgenommen. Hauptsächlich fokussieren wir uns auf Dörfer oder kleine Städte. Als die politische Lage sich verschlechterte, hatten wir Angst, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr teilnehmen lassen würden. Nach kurzer Stagnation haben wir aber wieder die alten Zahlen erreicht.

Kooperieren Sie auch mit der russischen Regierung?

Beide Einrichtungen sind den jeweiligen Kulturministerien unterstellt. Also ist es unser Job, offizielle Kommunikationskanäle offen zu halten. Aber wir beschränken uns nicht auf eine bestimmte Gruppe an Kooperationspartnern. Wir laden nach wie vor gute und glaubwürdige russische Experten ein. Auch versuchen wir aktiv, die öffentliche Debatte in Polen bezüglich Russlands zu beeinflussen. Im Bereich unserer Sponsorenprogramme fungieren wir als Vermittler. Wir motivieren NGOs, Schulen oder lokale Regierungen, potenzielle Partner in Russland zu finden und sich dann auf unsere Projektfinanzierung zu bewerben. Erschwert wird die Arbeit leider durch die Geografie  – Kooperation mit Jugendlichen in Wladiwostok ist aus Kostengründen schwierig.

Also fokussiert sich die Arbeit vor allem auf den europäischen Teil Russlands?

Es gab auch einen Austausch zwischen einem Dorf bei Kielce und einem bei Irkutsk. Aber von diesen Projekten können wir lediglich zwei bis drei pro Jahr finanzieren. Der große Rest konzentriert sich auf Kaliningrad, St.  Petersburg, Moskau, Smolensk. Für uns zählen eben die Pro-Kopf-Kosten, um so viele junge Russen und Polen wie möglich zusammenzubringen.

Ein Blick in die Zukunft der polnisch-russischen Beziehungen?

Eher pessimistisch. Im Moment hängt fast alles von der weiteren Entwicklung in Russland ab. Ich war immer gegen naive Überzeugungen, dass wir als „Westen“ Russland von außen verändern, den Weg aufzeigen können. Das muss aus Russland selbst kommen. Ein Zurück zu Business as usual ist unwahrscheinlich nach dem, was passiert ist. Beidseitig akzeptable Lösungen zu finden ist möglich, bedarf aber Fantasie und guten Willens aus Russland. Langfristig wird es hoffentlich zu einer Annäherung kommen, wenn vielleicht auch nicht mehr in meiner Amtszeit. Meine Hoffnung ist die Jugend.

 

Ausgewählte historische Ereignisse im russisch-polnischen Spannungsfeld

1610

Die Armee des polnisch-litauischen Königs Sigismund  III. nimmt Moskau ein und besetzt den Kreml. Für die Russen ist diese Fremdherrschaft ein Trauma, der Höhepunkt der „Zeit der Wirren“ (Smuta) nach dem Ende der Rjurikiden-Dynastie 1598. Die Interventen werden schließlich 1612 von einer Volksarmee vertrieben. Der 4.  November, an dem die im Kreml eingeschlossenen Polen kapitulieren, ist in Russland seit 2005 Nationalfeiertag: der „Tag der Einheit des Volkes“.

1717

Zar Peter der Große mischt sich als Vermittler in den polnischen Bürgerkrieg (Krone gegen Adel) ein und beendet alle Bestrebungen nach einer absoluten Monarchie. Inoffiziell wird Polen-Litauen daraufhin zum russischen Protektorat.

1772/1793/1795

Polen wird zum Spielball Europas und mit drei Teilungen, an denen jeweils Russlands beteiligt ist, von der Landkarte getilgt. Erst 1918 kehrt es als Staat zurück.

1920

Das „Wunder an der Weichsel“ wird zum Wendepunkt des Polnisch-Sowjetischen Krieges zu Gunsten der Polen. Unter Führung von Marschall Józef Piłsudski gelingt ihnen in Warschau ein unerwarteter Sieg gegen die Rote Armee. Das bedeutet die Zurückdrängung der Bolschewiki und eine Grenzziehung im Osten, die Gebietsverluste aus den Teilungen wieder wettmacht. Zehntausende Russen sterben in Kriegsgefangenenlagern.

1939

Der Hitler-Stalin-Pakt bereitet den Boden für die Aufteilung Polens zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion.

1940

Massaker von Katyn: Bei einem Dorf nahe Smolensk (und an anderen Orten) werden über 20.000 polnische Offiziere vom NKWD umgebracht und in Massengräbern verscharrt. Die Sowjetunion leugnet das Verbrechen bis zum Eingeständnis durch Michail Gorbatschow 1990.

1945-89

Volksrepublik Polen als Teil der sowjetischen Einflusssphäre. Moskau wird von den Polen zunehmend als Besatzungs- und nicht als Befreiungsmacht wahrgenommen. Diese Sichtweise überwiegt auch heute.

2010

Auf dem Weg zu einer Gedenkfeier in Katyn stürzt die polnische Präsidentenmaschine beim Landeanflug in Smolensk ab, sehr wahrscheinlich durch einen Pilotenfehler. Präsident Lech Kaczynski, seine Frau, 94 Regierungsmitglieder, Journalisten, Offiziere sowie die Flugzeugbesatzung kommen ums Leben. Die jetzige polnische Regierung mit Kaczynskis Bruder Jarosław an der Spitze zweifelt den Untersuchungsbericht an und nährt Verschwörungstheorien um einen russischen Terroranschlag.

 

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