Anatoli Sjakin aus der Kreisstadt Staraja Poltawka fährt jeden Morgen nach Werchni Jeruslan zur Arbeit. Das ist ein Dorf ganz in der Nähe, keine vier Kilometer entfernt. Früher betrieb der gelernte Agronom dort ein Kindercafé im Dorf, aber in der Pandemie musste er es schließen und sein Gewerbe auflösen. Jetzt beschäftigt sich der 58-Jährige beruflich mit der Erhaltung der Kirche von Werchni Jeruslan. „Was haben wir doch für eine besondere und schöne Kirche. Ich finde, dass es keine schönere gibt“, sagt Anatoli.
Neues Gebetshaus, Gemeindeküche und Garten
In den letzten Jahren hat er viel bewegt. Dank der Teilnahme an Ausschreibungen des Gebietes und der Bewerbung um Mittel aus dem präsidialen Fonds entstanden ein neuer Zaun und eine neue Tür sowie der Weg zur Kirche, wurde die Fassade restauriert und das Museum „Jeruslan“ im restaurierten Gebäude neben der Kirche eröffnet. Dieses Gebäude diente vormals der Kirchgemeinde als Schule, nun ist es ein Gebetshaus. Die Restaurationsarbeiten unterstützten Pfarrer Dietrich Hallmann und eine Kirchgemeinde aus Cottbus. Im Rahmen des Projektes „Kirchen helfen Kirchen“ wurden in Werchni Jeruslan eine kirchliche Gemeindeküche eröffnet, ein Garten angelegt und ein Gewächshaus zum Gemüseanbau gebaut. Vor zwei Jahren konnte eine gute Ernte eingebracht werden, bis in den November hinein verschenkte man Tomaten an die Alten im Ort. Die Küche verpflegte über ein Jahr die Bedürftigen, aber nun hat sich die Summe der Spenden verringert, so dass die Verpflegung bis auf Weiteres eingestellt werden musste.
Im Moment beköstigt diese Küche Touristen, die an den Wochenenden vor allem aus dem 150 Kilometer entfernten Saratow nach Werchni Jeruslan kommen. Von der Gebietshauptstadt Wolgograd sind es 400 Kilometer. Alle sind willkommen. Die Einnahmen aus Führungen kommen dem Wiederaufbau der Kirche zugute. Die Gäste erfahren im Museum, dass im Wolgagebiet in der Vergangenheit Skythen gelebt haben und auf welche Weise nach 1760 hier Deutsche auftauchten.
Die Blütezeit der Kirche in Werchni Jeruslan
Diese gründeten im Jahre 1860 am Fluss Jeruslan die Tochterkolonie Gnadentau. Ende des 19. Jahrhunderts lebten hier ungefähr 1500 Menschen. Die im Jahre 1876 gebildete Kirchgemeinde Gnadentau hatte über 9000 Mitglieder, darunter aus weiteren fünf lutherischen Siedlungen. Die Kirche wurde hier 1898 errichtet. Sie wurde im Stile der Jesu-Kirche in Zürich, der heutigen Siedlung Sorkino im Gebiet Saratow, nach einem Entwurf des bekannten Berliner Architekten Johann Eduard Jacobsthal mit geringfügigen Änderungen gebaut. Die Kirche war für die Kirchgänger bis Anfang der 1930er Jahre geöffnet. In dieser Zeit verlor sie ihre Glocken. Offiziell wurde die Kirche 1938 als letzte der lutherischen Kirchen an der Wolga geschlossen. Im September 1941 fand die Zwangsumsiedlung aller deutschen Ortsbewohner in östliche Regionen des Landes statt. Gnadentau wurde in Werchni Jeruslan umbenannt.
Niedergang
In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre begannen vereinzelte Familien in diese Gegend zurückzukehren. Erna Kolb, die Großmutter Anatoli Sjakins, gehörte zu den ersten Rückkehrern. Sie siedelte sich in Werchni Jeruslan an. Anatoli erinnert sich: Wenn er zu Besuch bei ihr war und sich schlafen legte, konnte er durch das Fenster die Kirche sehen. In der Zeit des „Tauwetters“ fingen die Dorfbewohner an, die Kirche zu demontieren, entfernten die Holzkonstruktionen und die Türen. Der Kirche kamen auch ihre Kirchenfenster abhanden. Man erzählt sich, dass sogar unter Einsatz eines Hubschraubers versucht wurde, das Kreuz vom Dach zu holen, was allerdings nicht gelang. Anatoli und sein Vater zogen los, um Vandalen aus der Kirche zu vertreiben, die die Inneneinrichtung zerstören wollten. Eine Zeitlang diente die Kirche als Getreidelager der Sowchose.
Als sich Anatoli Sjakin und der junge Moskauer Geistliche Andrej Pautow im Jahre 2001 der Kirche annahmen, bot sie einen traurigen Anblick. „Dort lag der Dung bis in Fensterhöhe. Wir haben alles in die eigenen Hände genommen, finanzielle Mittel dafür gab es keine“, berichtet Anatoli Sjakin. Nach der staatlichen Registrierung der Kirchgemeinde wurde er Vorsitzender des Kirchenrates. Die Wiederaufbauarbeit in den 2000er Jahren leistete hauptsächlich Andrej Pautow, als er hier Pastor war. Er kam 2010 auf tragische Weise ums Leben.
Die Deutschen von Werchni Jeruslan und die Russlanddeutsche aus Deutschland
Anatoli Sjakin erzählt, dass viele Deutsche ausgewandert seien. „Aber es gibt auch Rückkehrer aus Deutschland, meine Tante zum Beispiel und mein Bruder. Allein in Werchni Jeruslan mit seinen ungefähr 600 Einwohnern haben wir 45 Deutsche gezählt. Viele Deutsche leben auch in Staraja Poltawka und in anderen Siedlungen des Rayons. Wir haben einen Klub der Freunde der deutschen Sprache. In der Kirche versuchen wir, im Sommer Gottesdienste abzuhalten. Wir haben eine Predigerin, sie heißt Lidia Damsen. Die heiligen Sakramente erteilt ihr Sohn Wiktor, der eigens dazu aus Saratow kommt.“
Seit Ende 2019 hat die Kirche ihre eigene Mäzenin. Lidia Miller, Buchhalterin von Beruf, kam aus Deutschland, wo sie seit 1996 lebt, zu Besuch nach Werchni Jeruslan. Sie ist im Altai geboren, aber ihre Mutter stammte aus Gnadentau.
„Mich hat es immer hierher gezogen. Ich erinnere mich, wie sich im Altai die Erwachsenen versammelten und zu erzählen begannen: Bei uns in Gnadentau…“, so Lidia Miller. In Werchni Jeruslan fand sie heraus, womit sie helfen konnte und war von der Idee beseelt, Glocken zu kaufen, dazu noch ein Denkmal zum 80. Jahrestag der Deportation der Wolgadeutschen, um es am 28. August 2021 zu enthüllen. Auf den Tag genau hundert Jahre vorher war in der Kirche von Gnadentau ihre Großmutter konfirmiert worden. Es war bei Weitem nicht einfach, die Mittel dafür aufzutreiben und alles von Deutschland aus zu organisieren, noch dazu in der Pandemie. Aber es hat geklappt! „Jetzt ist es mein Traum, der Kirche die Kirchenfenster zurückzugeben“, erklärt Lidia.
Die Spendenaktion
Aber dazu müssen die Fenster erst einmal repariert werden. Wasser läuft herein und im Winter gelangt Schnee durch die Fenster ins Gebäude. So wurde in der Kirchgemeinde beschlossen, über die Crowdfunding-Plattform Planeta die Mittel für die Restaurierung des Altars zu sammeln. Zu den anstehenden Arbeiten zählt auch die Verglasung der Fenster in diesem Teil der Kirche. Die Spendenaktion begann bereits im Januar, aber sie verläuft zäh, obwohl die Rede von nur 450.000 Rubel, umgerechnet ungefähr 7500 Euro, ist. Sogar ein Russlanddeutscher aus Deutschland nahm mit der Gemeinde in Werchni Jeruslan Kontakt auf und wollte eine ansprechende Summe für den Wiederaufbau der Kirche spenden, aber nach dem 24. Februar hat er sich nicht mehr gemeldet.
Auch die Kirchturmspitze müsste schleunigst erneuert werden, die jetzige aus dem 19. Jahrhundert wackelt bedenklich. Nach genauer Untersuchung im vorigen Jahr stellte man fest, dass für ihre Restaurierung 2,4 Millionen Rubel (40.000 Euro) benötigt werden.
Anatoli Sjakin betritt seine Kirche. „Ich bin zwar schon lange hier, habe aber das Gefühl, nutzlos zu sein. Dies ist noch nicht erledigt und das hier auch nicht. So wie der Zustand der Kirche war, ist er geblieben, aber ich möchte alles verändern und den vorigen Glanz wiederherstellen. Ich komme, um zu beten.“
Olga Silantjewa
Derzeit können leider Spenden mit Visa- und MasterCard-Karten von Deutschland und den anderen EU-Staaten aus nicht erfolgen. Über Alternativen können Sie sich bei Anatoli Sjakin unter der E-Mail-Adresse ziakin63@mail.ru erkundigen.