Arvid Knippenberg zu begleiten, ist gar nicht einfach. Er ist ständig in Aktion, bewegt sich schnell im Raum und spricht sehr dynamisch. Aber das alles hat nichts mit Chaos zu tun. Zumindest von außen betrachtet, scheint er nach einem Plan zu handeln.
Geboren wurde Knippenberg in Sibirien, doch im Alter von sechs Jahren zog er mit seinen Eltern nach Deutschland. Dort begann auch seine Theaterlaufbahn. Zunächst interessierte er sich für das deutsche plastische Theater und wechselte dann zur Universität Bremen in das Theaterstudio unter der Leitung von Semjon Barkan, der zu Sowjetzeiten das Roma-Theater „Romen“ in Moskau leitete. Dort setzte Knippenberg seine Schwerpunkte. „Barkan war ein Student der berühmten Regisseurin und Lehrerin Maria Knebel. Ich kam mit dieser Tradition in Berührung und spürte: Das ist das Richtige!“
Auf der Suche nach einem richtigen Lernort schrieb sich Knippenberg an der Kölner Theaterakademie ein. Eine Lehrerin aus Russland warb dort gerade für einen Kurs. Doch daraus wurde nichts: Das Konzept der Akademie änderte sich, der Schwerpunkt verlagerte sich vom Theater zur Performance. Eine herbe Enttäuschung.
Aber wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. 2017 lernte Knippenberg während eines Theaterprojekts in Russland den bekannten Theaterpädagogen Veniamin Filschtinski kennen. Das war ein Wendepunkt: „Ich geriet in die Hände von coolen Meistern und erkannte, dass ich nach Russland ziehen muss, wenn ich ernsthaft das studieren wollte, was mir wirklich gefällt.“ 2017, als er bereits 29 Jahre alt war, zog Knippenberg nach St. Petersburg.
Die Fortsetzung seiner Theaterkarriere in Russland verlief nicht ungetrübt. Zum einen studierte er am Alexandrinski-Theater, allein der Name nötigt Respekt ab. Andererseits finanzierte Knippenberg ein von ihm gegründetes Theater in St. Petersburg selbst, was nicht einfach war. „Um das Theater zu unterhalten, musste ich als Vertriebsmanager im IT-Bereich arbeiten. Ich habe viel Geld in die Entwicklung dieses Projekts investiert, aber es gab Schwierigkeiten mit den Schauspielern.“ Während er in Deutschland meist Laien für seine Theaterprojekte rekrutierte, sie ausbildete und binnen fünf Jahren eine starke Truppe formte, war es mit professionellen Schauspielern in Russland eine ganz andere Geschichte. „Die Leute haben viel Geld für die Ausbildung ausgegeben und natürlich wollten sie auch etwas verdienen, um diese Investitionen zu rechtfertigen. Das ist verständlich, aber ihre Erwartungen erfordern eine anständige Finanzierung. Diese Erfahrung hat mich zum Nachdenken gebracht und meine Bezugspunkte verändert.“
Und wieder ein Ortswechsel. Diesmal nach Moskau, wo Knippenberg das Projekt „Bühnenwerk“ ins Leben gerufen hat. Im Sommer 2023 wurde es neu aufgebaut. „Es wurde ein Regisseur gesucht, ich habe mich entschlossen, dieses Projekt zu übernehmen. Wir fingen an zu arbeiten und machten sofort eine kleine Produktion, die der Deportation der Russlanddeutschen gewidmet war.“
Das „Bühnenwerk“ hat eine gemischte Besetzung. In „Lottchens Bräutigame“ nach einem Stück von Kotzebue ist beispielsweise kein einziger professioneller Schauspieler zu sehen. Und in der Inszenierung „Der Komödiant wider Willen“ desselben Autors spielen professionelle Schauspieler, die auch Deutsch auf dem Niveau eines Muttersprachlers beherrschen. Das ist kein Zufall. Arvid Knippenberg hat bewusst nach solchen Schauspielern gesucht, als er sich entschloss, eine zweisprachige Inszenierung auf die Beine zu stellen. Alexandra Schram ist als erste zum Ensemble gestoßen. Sie ist eine Russlanddeutsche, die wie Knippenberg selbst, lange in Deutschland gelebt hat, dann aber zum Studium nach Jaroslawl ging. Später kamen Pavel Orlanski und Irina Sterk hinzu. So entstanden der professionelle und deutschsprachige Teil der Truppe. Mit diesen Profis arbeitet Knippenberg gut zusammen: „Bei ihnen ist alles anders. Sie sind selbst daran interessiert, ein deutschsprachiges Stück in Russland zu spielen. Diese Idee hat uns geeint.“
Arvid Knippenberg spricht über die Idee ohne Pathos. Heute gibt es mehr als 90 Nationaltheater in Russland. Die Baschkiren, Jakuten und Tuwiner haben ihres, aber die Russlanddeutschen nicht. Knippenberg findet diese Tatsache umso ärgerlicher, als die russlanddeutsche Theatertradition sehr reich ist. Sie beginnt nicht erst in den 1980er Jahren, der Blütezeit des Deutschen Schauspielhauses in Temirtau. Und auch nicht in den 1930er Jahren, als es in der Wolgaregion ein deutsches Theater gab. Spätestens unter Katharina der Großen begann das deutsche Theater in Russland. Es gab eine deutsche Truppe am Kaiserlichen Theater in St. Petersburg. Sie hat ein reiches Erbe hinterlassen; die Stücke von August von Kotzebue, die das „Bühnenwerk“ kürzlich im Deutsch-Russischen Haus Moskau aufgeführt hat, sind nur ein Teil davon. Dieses Erbe will Arvid Knippenberg studieren und dem russischen Publikum zurückgeben. Und dann, wer weiß, wird man vielleicht über das deutsche Theater in Russland sprechen und es besuchen, so wie man das Roma-Theater „Romen“ und das jüdische Theater „Schalom“ besucht.
Igor Beresin