Ein Tag im Tagebau

Früher musste man die Wachen umgehen, um auf das Gelände von Europas größter Phosphoritgrube zu gelangen. Heute sind eher Mücken und Schlamm die Herausforderung. Und wer sich anders als MDZ-Redakteur Tino Künzel nicht verlaufen will, der bereitet sich lieber gründlich vor.

Ein Teil des ehemaligen Abschnitts Nr. 12 der Lopatino-Mine, wo bis 2021 noch Phosphorit gefördert wurde (Foto: Tino Künzel)

Noch 20 Minuten und der Vorortzug aus Moskau hätte mich in Kolomna abgesetzt, der vielleicht sehenswertesten Stadt des Moskauer Umlands. Mit ihrem Kreml, ihren Kirchen und Klöstern ist sie ein beliebtes Ausflugsziel.

Europas größtes Phosphorit-Vorkommen

Aber ich steige fünf Bahnstationen vorher aus. Nicht mittelalterliche Stadtgeschichte, sondern sowjetische Industriegeschichte steht heute auf dem Programm. Rund 100 Kilometer oder zwei Bahnstunden südöstlich von Moskau wurde früher Phosphorit abgebaut. Es soll sich um die größte Lagerstätte in ganz Europa gehandelt haben. Die sogenannte Lopatino-Mine zwischen Woskressensk und Jego­rewsk wurde ab den 1930er Jahren erschlossen. In den 1960er Jahren erreichte die Förderung ihren Höhepunkt.

Das Phosphatgestein wurde in Tagebauen aus dem Sandboden geschürft, gewaschen und ins Chemiekombinat von Woskressensk gebracht, um damit Düngemittel herzustellen. Davon zeugt in Woskressensk selbst, einer typischen sowjetischen Indus­triestadt mit 95.000 Einwohnern, eine weithin sichtbare Abraumhalde aus Phosphatgips, „weißer Berg“ genannt. Nicht erhalten geblieben ist dagegen eine 5,3 Kilometer lange und 1949 in Betrieb genommene Seilbahn mit über 40 Stützen, die den begehrten Rohstoff von einem Verarbeitungsort zum nächsten transportierte.

2021 machte die letzte Grube dicht

In postsowjetischer Zeit wurde der Abbau zunächst eingestellt, dann in begrenztem Umfang fortgesetzt. Zuletzt war noch die Mine Nr. 12 in Betrieb, mittlerweile rund 15 Kilometer vom einstigen Dorf Lopatino entfernt, wo alles angefangen hatte. Doch vor zwei Jahren kam das endgültige Aus. Auch der dort eingesetzte gigantische Takraf-Absetzer aus DDR-Produktion, Baujahr 1983, wurde verschrottet.

Die Wachen sind abgezogen, die Schranke, wo ein Schild verkündete, Zufahrt und Zutritt seien für Unbefugte strengstens untersagt, gibt es auch nicht mehr. Der Flachbau, wo noch vor gar nicht so langer Zeit das Hinein und Hinaus kontrolliert wurde, ist nur noch ein Häufchen Elend mit hohlen Fenstern. Wer sich einst heimlich auf das Gelände schlich, der kann das nun ganz ohne Nervenkitzel und ungehindert tun.

Baikal und Elbrus kurz hinter Moskau

Enthusiasten aller Couleur haben es längst für sich entdeckt: Wanderer, Extrem­sportler und Youtuber, denen es die bizarre Landschaft mit ihren breiten Furchen, ihren überwachsenen Hügeln und in der Sonne smaragdgrün schimmernden Wasserstellen angetan hat. Im Internet tauschen sie sich aus, sprechen von einer einzigartigen Kollaboration von Mensch und Natur, geben den exotischen Hinterlassenschaften der abgezogenen Bagger Namen wie Baikal und Elbrus.

Ich hätte mich lieber etwas ausführlicher einlesen sollen, bevor ich an einem Sonntagnachmittag an der Bahnstation Zemgigant am Ortsausgang von Woskressensk loslaufe. Eine Dose Mückenspray und eine Trinkflasche werden sich zwar später als überaus nützlich erweisen, ausreichend sind sie nicht.

Der Stationsname Zemgigant nimmt auf ein riesiges Zementwerk Bezug, das hier 1931 gebaut wurde. Heute existiert nur noch der zugehörige und gleichnamige Wohnbezirk. Für Woskressensk, das lange buchstäblich zum Himmel stank, dürfte es ein zweischneidiges Schwert sein, dass viele Großbetriebe, die früher die Luft verpesteten, mittlerweile das Zeitliche gesegnet haben.

Über Umwege ans Ziel

Gleich jenseits der Stadt reißt die Internetverbindung ab. Ich kann auf dem Handy zwar die Online-Karte aufrufen und meinen Standort darauf verfolgen, nicht aber in den Satelliten-Modus umschalten. Ansonsten wäre das ausgedehnte Sandplateau, auf dem bis vor Kurzem noch die Bagger standen, nicht zu verfehlen gewesen. Auf der schematischen Karte ist es dagegen nicht zu erkennen. Deshalb biege ich nach einer Stunde falsch ab und laufe eine weitere Stunde relativ orientierungslos auf Waldwegen im Kreis, zur Freude der Insekten, die mich umschwärmen und nur auszuhalten sind, wenn man zumindest in Bewegung bleibt. Ständig muss ich Schlammpfützen auf gesamter Wegbreite ins Unterholz ausweichen, wo im Zuge der Wiederaufforstung kleine Kiefern in Reih und Glied angepflanzt wurden.

Manchmal höre ich Stimmen, ohne sie verorten zu können. Allein bin ich hier nicht, obwohl ich niemanden zu Gesicht bekomme. Mit einer Ausnahme: Einmal versperrt mir nämlich ein ausgewachsener Hund den Weg und kläfft mich an. Aber ich meine, fast am Ziel zu sein (was sich später als Irrtum herausstellt), also ist an Umkehren nicht zu denken. Ich beiße die Zähne zusammen und mache drei Schritte auf den Vierbeiner zu. Da trollt er sich winselnd in den Wald und verpetzt mich wahrscheinlich bei seinem Besitzer.

Als sich das Dickicht endlich lichtet, finde ich eher zufällig auch den richtigen Weg. Doch die Sonne steht schon tief. Es bleibt nicht viel Zeit, die eigenwilligen Ausblicke zu genießen. Auch deshalb, weil ich zumindest die letzte Elek­tritschka zurück nach Moskau erreichen muss. Ein gelungener Trip? Wie man‘s nimmt. Mein Schrittzähler jubelt. Die Lopatino-Mine ist auf jeden Fall eine der ungewöhnlicheren Sehenswürdigkeiten in Podmoskowje. Mehr Zeit, als ich dafür hatte, und eine detaillierte Offline-Karte sind aber auf jeden Fall zu empfehlen.

Tino Künzel

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