
Das Wasser hat noch immer 23 Grad. Während es anderswo in Russland um diese Zeit schon sehr herbstlich sein kann, sind im Schwarzmeer-Badeort Anapa bis Ende September – wenn die Saison offiziell endet – die Sandstrände voll. Anapa steht für unbeschwerten Familienurlaub, das flache Ufer ist einzigartig an der rund 300 Kilometer langen Küste und eignet sich auch für Kinder, die noch nicht schwimmen können. Zu Sowjetzeiten wurden in dem Ort zahlreiche Pionierlager eröffnet, Anapas längste und bekannteste Straße heißt bis heute Pionierprospekt.
Nachfrage steigt weiter
Die Region Krasnodar, zu der Ferienhochburgen wie Anapa, Gelendschik und Sotschi gehören, verzeichnete nach amtlichen Angaben allein in den Sommermonaten 10,5 Millionen Besucher, womit das Vorjahresergebnis übertroffen wurde. Wie das Wirtschaftsblatt RBK berichtete, bezifferten Vertreter der Tourismusindustrie das Wachstum der Nachfrage in Anapa mit 8 bis 25 Prozent, ein Spitzenwert. In Sotschi, das als Marktführer unter den russischen Badeorten gilt, sollen es höchstens fünf Prozent gewesen sein.

Das Internetportal Livekuban.ru schrieb, auch im Herbst werde in der Region mit einer hohen Auslastung gerechnet. Ausgehend von den Hotelbuchungen, reichten die Prognosen von 79 Prozent im September bis zu 43 Prozent im November.
Anreise ein Problem
Als „beeindruckend“ werden die Zahlen auf Livekuban.ru bezeichnet. Dabei nehmen die Urlauber einiges in Kauf, um überhaupt ans Schwarze Meer zu gelangen. Von vier Flughäfen in der Region Krasnodar sind seit dem Beginn von Russlands „militärischer Sonderoperation“, abgekürzt SWO, im Februar 2022 drei wegen ihrer Nähe zur Ukraine für zivile Zwecke geschlossen.
So wird allein schon die An- und Abreise zur logistischen Herausforderung. Züge sind oft frühzeitig ausgebucht und selbst auf den billigen Plätzen inzwischen so teuer wie das Flugzeug früher. Mit dem eigenen Auto wiederum dauert die Fahrt etwa von Moskau nach Anapa (1500 km) mindestens einen Tag, von weiter entfernten Regionen auch das Doppelte und Dreifache. Aber viele scheint das nicht davon abzuhalten, Urlaub im Süden zu machen.
Angst vor Drohnen
Auch vor Ort werden sie allerdings immer wieder an die politischen Realitäten erinnert. Aus Anapa nahmen die Touristen zuletzt unter anderem Eindrücke mit nach Hause, wie Militärhubschrauber und Kampfjets am Himmel über dem Strand fast schon Alltag sind. In Anapa wie auch im benachbarten Noworossijsk werden jeweils den gesamten September über Finalturniere der sogenannten Kinderfußballliga ausgetragen, an denen Mannschaften aus dem ganzen Land teilnehmen. Doch diesmal fehlte der eine oder andere kleine Fußballer, weil seine Eltern den Spielort Noworossijsk für zu unsicher hielten – „wegen der Drohnen“, wie es hieß.

Noworossijsk erlebte Mitte Mai tatsächlich einen nächtlichen Drohnenangriff, in Telegram-Kanälen war von Dutzenden Explosionen die Rede. Offiziell wurde zu Schäden zunächst nichts mitgeteilt. Die Stadt beherbergt Russlands größten Hafen und andere Industrieanlagen, ist zudem ein Standort der russischen Schwarzmeerflotte. Im Zweiten Weltkrieg war sie heftig umkämpft, wovon heute zahlreiche Denkmäler zeugen.
Fotos? Das gibt Ärger
Dass Nervosität allgegenwärtig ist, wäre wohl übertrieben. Auf der schönen Uferpromenade flanieren am Wochenende die Einheimischen entspannt auf und ab. „Bei uns merkt man wenig von all dem, was da gerade passiert, und man hält das auch aus den Gesprächen raus“, erzählt ein Einwohner.
Doch wer auf der Fußgängerbrücke am Bahnhof ein paar Bilder schießt, der erntet umgehend böse Blicke. Eine Frau in Bahnuniform gestikuliert, man solle das doch tunlichst unterlassen. Auf die Frage nach den Gründen meint sie freundlich, aber bestimmt: „Sie fotografieren hier und uns schmeißt man anschließend eine Bombe auf den Bahnhof. Wenn die Polizei das gesehen hätte, dann müssten Sie jetzt die Bilder löschen.“
Zimmernachbar zur „SWO“
Im Hostel empfängt man den deutschen Gast überaus herzlich, „auch wenn ihr Waffen an die Ukraine liefert“. Doch man liebe ja das deutsche Volk, wird an der Rezeption versichert.
Der Zimmernachbar, ein höflicher junger Mann aus der Region, wartet nur darauf, sich als Freiwilliger wieder der russischen Armee anschließen zu können. Er war bereits bei der „SWO“, hat eine Kugel in den Rücken bekommen und den „Tod gesehen“. Warum er sich erneut freiwillig gemeldet habe und „gegen die NATO kämpfen“ wolle, wie er sich ausdrückt, erklärt er damit, ihm gehe es darum, „dass das alles möglichst schnell vorbei ist“. Die hohe Antrittsprämie für Freiwillige, mit der in allen Stadtbussen geworben wird („bis zu 2,0 Millionen Rubel“) will er nach eigenen Worten dazu verwenden, um seine Mutter wieder gesund zu machen. Sie sei an Krebs erkrankt und die Behandlung in Moskau teuer.
Tino Künzel