
Deutschland war in der Familie von Marina Zwetajewa allgegenwärtig. Ihre Mutter Maria Meyn, eine Konzertpianistin, hatte deutsche Wurzeln und erzählte ihren Kindern viel über ihr Vaterland. Sie las alte deutsche Märchen im Original und mochte den Roman „Lichtenstein“ von Wilhelm Hauff besonders gern. Als Marina Zwetajewa im Alter von sechs Jahren ihre ersten Gedichte schrieb, waren auch welche auf Deutsch darunter. Und in ihren Tagebüchern tauchen, wenn es um Deutschland geht, immer wieder deutsche Wörter und Ausdrücke auf. „Von meiner Mutter habe ich Musik, Romantik und Deutschland geerbt“, erzählte die Dichterin. Zwetajewa nannte Deutschland die Wiege ihrer Seele.
Schwarzwald
Ab dem Herbst 1904, als Marina zwölf Jahre alt war und ihre jüngere Schwester Anastassija zehn, lebte die Familie einige Zeit in Deutschland. Ihr Domizil hatte sie im Schwarzwalddorf Langackern, heute ein Ortsteil der Gemeinde Horben bei Freiburg. In ihr Tagebuch schrieb Zwetajewa, den Schwarzwald habe sie „sehnsüchtig“, „wahnsinnig“ geliebt. „Die goldenen Täler, die rauschenden, bedrohlich-gemütlichen Wälder – und nicht zu vergessen das Dorf mit den Aufschriften an den Kneipen: „Zum Adler“, „Zum Löwen“. Wenn ich eine Kneipe hätte, würde ich sie „Zum Kuckuck“ nennen.“
Schon nach wenigen Monaten war ihre Kindheit plötzlich zu Ende: Im Februar 1905 verschlechterte sich der Gesundheitszustand ihrer Mutter, die in ein Lungensanatorium im Schwarzwaldort St. Blasien umziehen musste. Es folgte die traurige Rückkehr nach Russland mit einer hoffnungslos kranken Mutter, die am 5. Juli 1906 in der Kleinstadt Tarussa rund einhundert Kilometer südlich von Moskau starb.
Sachsen
Marina Zwetajewa kehrte 1910 mit 18 Jahren nach Deutschland zurück. Diesmal nahm ein Pfarrer die Schwestern bei sich auf. Während ihr Vater Iwan zu Hause in Moskau mit dem künftigen Museum der Schönen Künste – dem heutigen Puschkin-Museum – beschäftigt war, verbrachten sie den Sommer in Sachsen. Die Mädchen sollten ihr Deutsch auffrischen und die Grundlagen der Haushaltsführung erlernen. Aus Marinas Tagebucheinträgen von 1919 ergibt sich folgendes Selbstporträt aus der Zeit bei dem Pfarrer: „Ort Loschwitz bei Dresden, ich bin in einer Pfarrersfamilie – rauchend, Haarschnitt, fünfzöllige Absätze. (…) Gehe zu einem Rendezvous mit einer Statue eines Zentauren im Wald, kann Rüben nicht von Karotten unterscheiden (in einer Pastorenfamilie!) – all die Abscheulichkeiten kann ich nicht aufzählen! Nun – abgestoßen? Nein, geliebt, nein, geduldet, nein, sein dürfen.“
Berlin
Sengende Sonne, Kopfsteinpflaster, das Klappern der ersten Schritte der zur Arbeit eilenden Einwohner der Stadt – so erlebte Zwetajewa die deutsche Hauptstadt im Sommer 1922. Sie kam mit ihrer neunjährigen Tochter Ariadne aus Moskau an und stürzte sich sofort in das brodelnde literarische Leben des „russischen Berlins“. Zu den etwa 300 000 Emigranten aus Russland, die Anfang der 1920er Jahre dort lebten, gehörten Politiker und Diplomaten, Künstler und Musiker. Aber es gab besonders viele Schriftsteller in der Stadt: Das damalige Berlin wurde sogar als „literarische Hauptstadt der russischen Emigration“ bezeichnet.

Ilja Ehrenburg arbeitete dort seinerzeit für die Zeitschriften „Russisches Buch“ und „Neues Russisches Buch“. Er führte Marina Zwetajewa in einen Kreis von literarischen Außenseitern ein und mietete ihr ein Zimmer im Elisabeth-Schmidt-Gästehaus in der Trautenaustraße. Zwetajewas elf Wochen in Berlin bestanden ausschließlich aus Treffen und Gesprächen. Das hat sie Ehrenburg zu verdanken. Dank seiner Bemühungen waren gerade zwei ihrer Bücher in Berlin erschienen: „Gedichte an Blok“ und „Abschied“. In ihre Gefühle und das literarische Leben der russischen Emigrantenszene vertieft, nahm sie Berlin wahrscheinlich kaum wahr. In dieser Zeit schrieb sie rund 30 Gedichte.
Erinnerung
In Deutschland wird bis heute an Marina Zwetajewa erinnert. Das Haus in der Freiburger Wallstraße, wo sie und ihre Schwester einst das Internat besuchten, ziert eine Gedenktafel. Es gibt auch eine Straße, die den Namen der Dichterin trägt – der Marina-Zwetajewa-Weg. Außerdem ist ein Zentrum für russische Kultur an der Universität Freiburg nach ihr benannt. „Wir organisieren immer wieder Veranstaltungen, in denen es um Marina Zwetajewa geht, sind aber viel breiter aufgestellt, was das kulturelle Angebot betrifft“, erklärt Margarita Augustin, die Leiterin des Kulturprogramms des Vereins. Im Oktober, rund um Zwetajewas Geburtstag, finde traditionell ein Konzert zu ihren Ehren statt.
Tarussa
So viel Marina Zwetajewa aber auch für Deutschland übrig hatte, zumindest ein Ort auf der Welt stand ihr gewiss noch näher: Tarussa. Schon ihr Vater verliebte sich in das Städtchen, als er dort Ende des 19. Jahrhunderts regelmäßig Verwandte besuchte. 1892, in jenem Jahr, als Zwetajewa geboren wurde, schloss er einen langfristigen Mietvertrag für ein Sommerhaus ab. Die Zwetajews galten als die ersten „Datschniki“ von Tarussa. Für Marina wurde der uralte Flecken hoch über der Oka zum Inbegriff einer glücklichen Kindheit. „Hier“, schreibt Zwetajewas Tochter Ariadna in ihren Memoiren, „lernte sie Russland kennen, was sie für immer zu einer russischen Dichterin machte.“

Heute befindet sich in Tarussa das Familienmuseum der Zwetajews. Und natürlich wurde in dem Ort auch der 130. Geburtstag der Dichterin am 8. Oktober ein wenig inniger gefeiert als anderswo. Allen Verehrern wurde ein umfangreiches Programm geboten, darunter eine Blumenniederlegung am Zwetajewa-Denkmal, die Aufführung einer von ihren Werken inspirierten Komposition durch Künstler des Regionalen Schauspielhauses Kaluga und Auftritte von Dichtern.
Jekaterina Janowskaja