Die unsichtbare Gefahr aus der Küche

Unsichere Herde, alte Leitungen, kaum Sicherheitskontrollen: Nach zwei verheerenden Explosionen in Wohnhäusern warnen Experten vor dem maroden Zustand des russischen Gasleitungsnetzes und fordern Reformen. Aber auch die Bürger sind in der Pflicht.

Unglück am Silvesterabend: In Magnitogorsk starben bei einer Explosion 39 Menschen. / Foto: unanews.ru

Männer in blauen Arbeitsanzügen, die mit Werkzeugtaschen von Tür zu Tür eilen, piepsende Testgeräte und schwer genervte Mieter: Mitte Januar wurden viele Moskauer von einer groß angelegten Operation des städtischen Gasversorgers „Mosgas“ überrascht. In über 25 000 Wohnungen überprüfte ein Heer emsiger Kontrolleure die Funktionstüchtigkeit von Gasherden und suchte nach undichten Stellen in den zuführenden Gasleitungen. Die Kontrolle war nur kurz zuvor angekündigt werden.

30 Explosionen pro Jahr

Mit dem Check reagierte die Moskauer Stadtverwaltung auf zwei Explosionen, die Russland zuvor erschüttert hatten. Zuerst war am letzten Tag des vergangenen Jahres ein Teil eines Wohnblocks in Magnitogorsk nach einer Explosion zusammengestürzt. Dabei kamen 39 Menschen ums Leben, 17 wurden verletzt. Viele Russen reagierten entsetzt, Präsident Putin legte an der Unglücksstelle Blumen nieder. Kaum zwei Wochen ereignete sich bereits das nächste Unglück. Diesmal explodierte im südrussischen Schachty ein Neubau. Vier Anwohner überlebten die Katastrophe nicht.

Als Ursache vermuten Ermittler in beiden Fällen ein Gasleck. Seitdem diskutieren Experten über die schadhaften Leitungssysteme im Land und die Politik steht unter Handlungsdruck. Jurij Pawlenkow überraschen die Tragödien nicht. Explosionen von Wohnhäusern seien in Russland keine Seltenheit, erklärt der Experte für Wohnungs- und Kommunalwirtschaft von der russischen Industrie- und Handelskammer. „Gasexplosionen in Mehrfamilienhäusern sind zur chronischen Krankheit des Wohnungssektors geworden“, sagt Pawlenkow in einem Interview für die Internetplattform „Znak“. „Ich unterstreiche, pro Jahr gibt es etwa 30 Explosionen vergleichbarer Stärke!“

Veraltete Leitungen aus Sowjetzeiten

Beispielsweise seien im Jahr 2016 in Jaroslawl und 2017 in Ischewsk Wohnhäuser wegen Gaslecks in die Luft geflogen. In beiden Fällen kamen mehrere Menschen zu Tode oder wurden schwer verletzt. Über die zahlreichen kleineren Katastrophen in der russischen Provinz würden die Medien oft gar nicht erst berichten, erklärt der Spezialist. Im Gegensatz zu Deutschland benutzen viele Russen immer noch einen vergleichsweise günstigen Gasherd zum Kochen. 75 Prozent der Haushalte im Moskauer Gebiet verfügen über einen Gasanschluss. Russlandweit sind es nach Angaben des Bauministeriums etwa 60 Prozent.

In vielen Fällen stammen die veralteten Leitungen noch aus Sowjetzeiten und sind seit Längerem nicht mehr gewartet worden. Undichte Stellen bleiben so unentdeckt und führen immer wieder zu Tragödien. Den maroden Zustand des Leitungsnetzes führen Kenner auf unzureichende Kontrollen zurück. „Der Hauptgrund dafür ist das Fehlen einer unabhängigen, nichtstaatlichen Aufsichtsbehörde für den Gassektor“, erklärt Konstantin Krochin, Vorsitzender des Bundes der Moskauer Wohnungsorganisationen gegenüber dem Nachrichtenportal news.ru.

Kaum Investitionen in die Sicherheit

Die eigentlich dafür zuständige staatliche Wohnungsinspektion habe die Verantwortlichkeit nach einer Reform 2014 weitergereicht, ergänzt Jurij Pawlenkow. Die Behörde sei nun nicht mehr direkt für den technischen Zustand der Gasleitungen in Mehrfamilienhäusern verantwortlich. Stattdessen müssten die lokalen Wohnungsgesellschaften das Funktionieren der Röhren garantieren. Die Wohnungsinspektion kontrolliere nur noch deren finanzielle Ausgaben. „Das ist ein grundlegender Wechsel der Funktionen“, kommentiert Pawlenkow. „Und das ist ein Alptraum!“

Denn die Unternehmen würden lieber die niedrigen Strafen der Inspektion in Kauf nehmen als aufwendig in die Sicherheit des Netzes zu investieren. Ein anderer Grund für die zahlreichen Explosionen sind die preiswerten aber unsicheren Gasherde, die in den meisten russischen Küchen stehen. Den einfach konstruierten Geräten fehlt meist eine automatische Sicherheitsabschaltung, die nach dem Verlöschen der Flamme weiteres Zuströmen von Gas verhindert. Selbst beim Einhalten aller Sicherheitsvorschriften kann es daher zu Unglücken kommen, wenn der Nachbar mit der brennenden Zigarette im Mund einschläft.

Duma reagiert mit Gesetz

Ein weiteres Problem benennt Swetlana Rasworontnewa. Viele Wohnungsbesitzer wüssten nicht ausreichend über ihre Pflichten Bescheid. „Dem Gesetz nach müssen Eigentümer einen Vertrag mit einer spezialisierten Firma abschließen, welche die Gasgeräte innerhalb einer Wohnung kontrolliert“, erklärt die Direktorin der NGO „Nationales Sicherheitszentrum zur gesellschaftlichen Kontrolle des Wohnungssektors“. In manchen Wohnungen habe es seit Jahren keinen Check gegeben. Dem Staat seien in dieser Frage die Hände gebunden, erklärt Jurij Pawlenkow. Denn das Innere einer Wohnung sei aus Sicht der russischen Verfassung unantastbar.

Angesichts der drängenden Probleme rufen die Experten zum Handeln auf. Ohne Reformen könne die Zahl der Explosionen in Zukunft sonst noch weiter ansteigen. Die Duma hat bereits reagiert und ein erstes Gesetz auf den Weg gebracht. Dieses sieht beim Bau neuer Wohnhäuser mit Gasanschluss eine automatische Abschaltvorrichtung vor. Die Vorschrift gilt ab Juli. Außerdem berät das Parlament einen Vorschlag, der Wohungsgesellschaften berechtigen soll, auch innerhalb von Wohnungen Sicherheitsüberprüfungen vorzunehmen.

Birger Schütz

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