Der Frieden muss neu erfunden werden

Am 18. Mai 2019 ging es auf der Straße des Friedens in Wolgograd maximal friedlich zu. Weil dort ein Kunstfestival stattfand, wurde sie für einen Tag zur Fußgängerzone. Auch die Teilnehmer einer internationalen Art-Residenz unter dem Titel „Die Erfindung des Friedens“ stellten aus. Fünf Jahre später muss man sich fragen, ob ihre Friedensmission gescheitert ist.

Die Teilnehmer und Besucher eines Kunstfestivals auf der Straße des Friedens in Wolgograd hatten vor fünf Jahren viel Spaß. (Foto: Leonid Toprower)

Wolgograd und Coventry wissen, was Krieg bedeutet. Noch 1944 waren das gemeinsame Schicksal und ein Tischtuch der Grundstein für eine Städtepartnerschaft. Die Kontakte hatten schon ein paar Jahre vorher begonnen. Nun sandten mehr als 800 Frauen aus Coventry den Einwohnern von Wolgograd, das damals noch Stalingrad hieß, über die sowjetische Botschaft in London erneut einen freundschaftlichen Gruß. Ihre Namen waren in das Tuch gestickt, auch etwas Geld hatte man gesammelt. Bis heute wird im Museum der Schlacht von Stalingrad am Wolgograder Wolga-Ufer an diese Geste und das, was sie auslöste, erinnert.

Volkfest auf der Straße des Friedens

Den 75. Jahrestag der Städtepartnerschaft im Jahr 2019 nahm man in der Stadt zum Anlass, Künstler aus allen Partnerstädten einzuladen, darunter Köln und Chemnitz. Drei Museen taten sich zusammen, um eine sogenannte Art-Residenz zu veranstalten. Künstler aus zwölf Ländern und 29 Städten kamen, um gemeinsam Kunstwerke ganz verschiedener Gattungen zu schaffen. Übergreifendes Thema: der Frieden oder, so der Name des Projekts, „Die Erfindung des Friedens“. Der Gedanke dahinter: Die Schrecken von Krieg, Leid und Zerstörung geraten in Vergessenheit, auch in Alltagskonversationen sind militaristische Töne keine Seltenheit. Der Wert des Friedens muss wieder mehr im Bewusstsein verankert werden, auch mit den Mitteln der Kunst. Und seien die Unterschiede auch noch so groß. Die Veranstalter formulierten Punkt eins ihrer Agenda so: „Gegensätze ziehen sich an. Verschiedene Götter, kulturelle Codes und Wirtschaftsmodelle sind der beste Anlass für Dialog.“

Am 18. Mai 2019 ging es in Wolgograds Innenstadt stimmungsvoll zu. (Foto: Leonid Toprower)

Am 18. Mai 2019 bekamen auch die Wolgograder die Ergebnisse der Art-Residenz zu sehen. Die Straße des Friedens in der Innenstadt, eine der ersten wiederaufgebauten Straßen nach dem Krieg, wurde für den Verkehr gesperrt. Neugierige konnten Exponate bestaunen, Künstlern über die Schulter schauen, mit ihnen ins Gespräch kommen und sich auch selbst betätigen. Es wurde gesungen und getanzt. 24.000 Menschen zog es nach Veranstalter­angaben an diesem Tag auf die Straße des Friedens. Ein Volksfest im Zeichen von Frieden und Völkerverständigung.

Fünf Jahre später sind die Realitäten ernüchternd. Hat die Friedensformel von Wolgograd also nicht funktioniert? War alles umsonst?

„Nicht ins Bewusstsein der Mehrheit gedrungen“

Von einer Kunstaktion sollte man natürlich auch nicht erwarten, dass sie geradezu die Welt verändert. Und in gewisser Weise hat die weitere Entwicklung den Aktivisten ja recht gegeben: Das Fundament für ein friedliches Zusammenleben war offenbar so brüchig geworden, dass seine Verstärkung dringend geboten gewesen wäre.

Wenn Dmitri Gruschewski vom Wassili-Polenow-Museum in der Region Tula heute auf den Effekt der Art-Residenz zurückblickt, deren Kurator er war, dann nennt er sein Verhältnis dazu „schwierig“. Einerseits hätten die teilnehmenden Künstler Freundschaften geschlossen, die bis heute hielten. „Grenzen und die politische Konjunktur sind für sie kein Hindernis.“

Andererseits sei man mit den sinnstiftenden Ideen der Art-Residenz offenbar „nicht ins Bewusstsein der Mehrheit gedrungen“, so Gruschewski. Die Leute auf der Straße des Friedens hätten die Veranstaltung damals mit großer Freude angenommen. Doch „mit dem gleichen Enthusiasmus“ fotografierten sie sich am 9. Mai auch vor den Panzern, die durch diese selbe Straße rollen.

Selbst das Tischtuch zwischen Wolgograd und Coventry ist zerschnitten, zumindest vorerst. Die Städtepartnerschaft ruht. Und der Plan, aus der Art-Residenz ein regelmäßiges Format zu machen und sie jedes Jahr in einer anderen Partnerstadt stattfinden zu lassen, hat sich bisher auch nicht verwirklichen lassen.

Was Künstler in der jetzigen Situation tun sollten? „Das muss schon jeder für sich selbst entscheiden“, meint Gruschewski. Er selbst würde gern auf der Straße des Friedens ein Café namens „Die Erfindung des Friedens“ eröffnen. Man soll die Hoffnung nicht aufgeben.

Tino Künzel

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: