Staat im Staate: Das Tschetschenien von Ramsan Kadyrow

Unlängst hat die MDZ darüber berichtet, wie Tschetschenen an der weißrussisch-polnischen Grenze versuchen, in den Westen zu gelangen – wieder und wieder. Was ist dieses Tschetschenien für ein Fleckchen Erde, dass von dort jedes Jahr tausende Menschen fliehen? Ein Besuch vor Ort.

Tschetschenischer Ort in den Kaukasusbergen. / Tino Künzel

Welche Bilder von Tschetschenien erscheinen vor dem inneren Auge eines Deutschen, der in den letzten 25 Jahren die Tagesschau verfolgt hat? Russische Panzer auf zerstörten Straßen, Gerippe sowjetischer Plattenbauten, bärtige Bewaffnete, für die einen Terroristen, für die anderen Freiheitskämpfer. Und dorthin kann man seit diesem Sommer direkt von München fliegen.

Dafür, dass es nur etwa so groß ist wie Thüringen, ist das Gebiet nördlich des Kaukasusgebirges ziemlich bekannt in der Welt. Bevölkert wird die Republik von gut einer Million Menschen, die praktisch alle Tschetschenen sind. Russen und Angehörige anderer Nationalitäten flohen in den 90er Jahren vor zwei Unabhängigkeitskriegen mit 150.000 Toten. Aber auch Tschetschenen verlassen ihre Heimat – und zwar bis heute. Von den 12.234 Asylanträgen, die russische Staatsbürger 2016 in Deutschland stellten, stammten 9850 von Menschen aus Tschetschenien.

Erste Überraschungen im Flugzeug: Da sitzt man neben einer hochgewachsenen Blondine – mit gefärbten Haaren – auf Stöckelschuhen, zwei jungen Studenten, die mit tschetschenischen Stipendien in Deutschland Bergbau und Zahntechnik studieren, und einem Tschetschenen, der einst als Kriegsflüchtling kam und jetzt in der Brauerei einer bayerischen Kleinstadt als Gabelstaplerfahrer arbeitet. Alle sind auf dem Weg zu ihrer Verwandtschaft.

Wer in Grosnyj per Flugzeug aus dem Ausland ankommt, wird von russischen Grenzern überprüft – und wenn er verdächtig wirkt wie etwa ein deutscher Journalist, von einem russischen Geheimdienstler interviewt. Das gleiche Schicksal ereilt tschetschenische Männer. So kontrollieren die Russen ihre Landesgrenze. Ab dem Gepäckband beginnt dann der Machtbereich der Tschetschenen.

Es ist der Machtbereich eines Mannes, dessen bärtiges Konterfei auf Plakaten, Kindergärten, Boxschulen, auf Autos und in Zeitungen zu sehen ist: Ramsan Kadyrow. Der Mann, der trotz seiner 41 Jahre und seines massigen Körpers noch immer etwas Unbeholfenes, Jungenhaftes hat, erbte 2004 die Macht von seinem Vater, dem Moskau-loyalen Präsidenten Achmat Kadyrow. Seitdem regiert er sein Volk wie ein Sonnenkönig und so selbstherrlich, dass er sich selbst in Moskau reichlich Feinde gemacht hat, insbesondere bei den Sicherheitsdiensten. „In Tschetschenien gilt das Wort des sonst allmächtigen FSB rein gar nichts“, erklärt der Menschenrechtler Oleg Orlow von der Organisation Memorial, die sich seit zwei Jahrzehnten intensiv mit Tschetschenien beschäftigt.

Ramsan Kadyrow (in weinrot) beim „Tag der tschetschenischen Sprache“ im Frühjahr. / RIA Novosti

Kadyrows wichtigster Trumpf ist die vollkommene Loyalität gegenüber Putin. „Solange er in Tschetschenien für Ruhe sorgt, hält Putin zu ihm.“ So beschreibt ein tschetschenischer Journalist in Moskau, der nicht genannt werden möchte, den Vertrag zwischen den beiden. „Andere Gouverneure werden schon entlassen oder landen vor Gericht für ein Zehntel dessen, was Kadyrow sich leistet“, erklärt Orlow.

Fast drei Millionen Menschen folgen Ramsans Eskapaden auf seinem Instagram-Account: Da zeigt er in betont lustigen Videos seine Kinder, Tiger und Löwen aus seinem Privatzoo, Rennpferde aus seinem Reitstall, er kümmert sich um Fußballstadien und die Belange der Armen. Das Herz Ramsans gehört aber den Mixed Martial Arts, einer Art moderner Gladiatorenkämpfe: Der Club „Achmat“ schickt seine Kampfmaschinen rund um den Globus zu Wettkämpfen, und wenn die Sieger zurückkommen, dann nimmt Ramsan sie stolz in den Arm.

Kadyrow sorgt aber nicht nur für Ruhe, er will sein Volk zu Vorzeige­muslimen und Tschetschenien zum Vorzeigeobjekt machen. Die besten Muslime der Welt sollen etwa keinen Alkohol mehr trinken. Es gibt in ganz Grosnyj nur noch einen Supermarkt, der einmal am Tag zwei Stunden lang Alkohol verkaufen darf. In den zahlreichen Cafés und Restaurants der Stadt trinkt man Tee, Kaffee und Limonade. Viele Tschetschenen macht das wütend: Schließlich sind sie umgeben von russischen Republiken wie Dagestan oder Inguschetien, die ebenso muslimisch sind wie sie, aber in denen der Alkoholkonsum eben Privatsache ist, ganz zu schweigen vom weiter südlich gelegenen Georgien, das sich seiner Weinkultur rühmt.

„De facto hat Kadyrow eine totalitäre Enklave innerhalb Russlands geschaffen, in der er alles kontrolliert: die Politik, die Wirtschaft, das Privatleben der Menschen bis hin zu ihren sexuellen Beziehungen“, so Menschenrechtler Orlow. Die Prostitution hat Ramsan schon lange ausgemerzt. Hart bestraft wird auch der Drogenkonsum, der in anderen muslimischen Ländern den Alkohol ersetzt. In Tschetschenien gibt es auch keine Diskotheken und keine Konzerte – mit Ausnahme tschetschenischer Folklore. Beinahe jeder Tschetschene berichtet von diesem undefinierbaren Druck, der auf ihnen lastet. Um Dampf abzulassen, fahren sie an den Wochenenden in die Nachbarrepubliken.

Um Tschetschenien zum Vorzeigeobjekt zu machen, hat Kadyrow mit Geld aus Moskau das Land wieder aufgebaut: Kein Haus in Grosnyj zeigt auch nur die geringste Spur des Krieges, die Straßen sind in einem besseren Zustand als in den meisten russischen Städten. In Grosnyj blinken allabendlich wie ein Weihnachtsbaum die beleuchteten Glasfassaden des Wolkenkratzerviertels „Grosnyj City“, davor strahlt hell die größte Moschee Russlands, benannt nach Ramsans Vater Achmat. In den Zentren der anderen Städte das gleiche Bild: neue, nachts in Neonfarben blinkende Wohnhäuser, prächtige Moscheen. Und im Zentrum Grosnyjs werden gerade hinter einem Bauzaun mächtige Betonpfähle in den Boden gerammt: Hier soll bis 2020 der zweithöchste Wolkenkratzer Russlands entstehen. 102 Etagen und 435 Meter hoch, natürlich auch dieser benannt nach Ramsans Vater: Achmat-Tower.

Doch das ist alles nur Kulisse. Ramsan tut so, als wäre sein Land Saudi-Arabien, dabei ist es eine der ärmsten Regionen des Landes, die fast komplett aus Moskau finanziert wird, die ein Durchschnittsgehalt von 22.000 Rubel (etwa 300  Euro) hat und die dritthöchste Arbeitslosenrate des Landes. Wer arbeitet, verdient um die 200 Euro im Monat. Nur Polizisten und die Mitglieder der vielen Sondereinheiten bekommen das Doppelte.

Eine nennenswerte Industrie existiert nicht, abgesehen vom tschetschenischen Öl, das vom russischen Staatskonzern Rosneft abgepumpt wird. Die Reserven sind allerdings fast erschöpft: 2016 wurden nur noch 170.000 Tonnen Öl gefördert.

In Tschetschenien hungert niemand, die medizinische Grundversorgung ist gesichert. Selbst in den Dörfern ist der bescheidene Wohlstand angekommen, die sauber gemauerten Backsteinhäuser sehen besser aus als in vielen russischen Dörfern. Aber im Großen und Ganzen: Außer den Prestigeprojekten Ramsans, die überall aus dem Boden schießen, bewegt sich nichts.

Kriegsspuren getilgt: eine Schule in der tschetschenischen Hauptstadt Grosnyj. / Tino Künzel

Und je mehr man eintaucht in das tschetschenische Leben, desto mehr Geschichten hört man, die nicht nur das Bild des reichen, sondern auch des ruhigen Tschetscheniens zerstören. Meistens beginnen sie mit den Worten „Was hier wirklich los ist, erzählt dir sowieso niemand“.

Da ist etwa die von Ramsans Mutter geführte Kadyrow-Stiftung, die Care-Pakete nach Aleppo schickt, Boxturniere finanziert und ein Barthaar des Propheten in die Moschee der Stadt Argun gebracht hat. De facto ist sie aber die private Geldbörse des Kadyrow-Clans, aus dem dieser der Bikergang „Nachtwölfe“ Motorräder schenkt, den Spielern des Fußballklubs „Achmat“ Mercedes-Limousinen oder Gerard Dépardieu eine Fünfzimmerwohnung in Grosnyj. 2015 gab die Stiftung offiziell ein Budget von 1,5  Milliarden Rubel (über 20 Millionen Euro) an. Woher das Geld kommt, darauf hatte Ramsan 2011 eine einfache Antwort: „Allah gibt es.“

Tatsächlich wird seine Portokasse gefüllt mit „freiwillig-erzwungenen“ Spenden von Geschäftsleuten und einfachen Tschetschenen. Ein Taxifahrer etwa erzählt, er und seine Kollegen zahlten jeden Tag 100 Rubel (etwa 1,5 Euro) an die Stiftung, bei Angestellten sind es bis zu zehn Prozent des Gehalts, die einbehalten werden. Wer aufmuckt, wird öffentlich gedemütigt. So wie Aischat Inajewa, die sich in einem YouTube-Video über die Tribute beschwerte. Tagelang wanderte ihre wütende Rede in Tschetschenien von Smartphone zu Smartphone, dann zitierte Kadyrow sie zu sich. Inajewa musste mit gesenktem Kopf und vor Fernsehkameras eingestehen, dass sie „offenbar verwirrt“ gewesen sei

In der Nacht zum 17. Dezember vergangenen Jahres hallte Maschinengewehrfeuer durch das Zentrum Grosnyjs. Mehrere junge Männer waren in die Stadt eingedrungen, hatten Polizisten entwaffnet und ein Polizeiauto entführt. Kadyrows Leute machten kurzen Prozess mit ihnen, einen Tag später reklamierte der Islamische Staat den Anschlag für sich. Es folgte eine Verhaftungswelle, während derer laut Informationen der Moskauer „Nowaja Gaseta“ über 200 Tschetschenen festgenommen wurden, allesamt Menschen, die irgendwie in Verbindung mit den Angreifern standen. Dabei ist festgenommen der falsche Ausdruck: Denn die meisten von ihnen landeten erst einmal in inoffiziellen Gefängnissen, wo sie gefoltert wurden, um Geständnisse aus ihnen herauszupressen.

Diese Hauptstraße in Grosnyj wurde nach Wladimir Putin benannt. / Tino Künzel

Hausbesuch in der eine Autostunde von Grosnyj entfernten Stadt Schali, deren Zentrum von Staub bedeckt ist, weil dort gerade das nächste Prestigeobjekt fertiggebaut wird: die Ramsan-Kadyrow-Moschee für 10.000 Menschen  – in einer Stadt mit 50.000 Einwohnern. In Schali und Umgebung sind im Januar 27 junge Männer verschwunden, alle zwischen 17 und 30 Jahre alt. Die Angehörigen eines der Männer erzählen, wie sie von der örtlichen Polizei zum Teufel geschickt wurden. Als sie schließlich in Grosnyj im Büro des russischen Ermittlungsausschusses Anzeige erstatteten, wurden sie am nächsten Tag vom Bürgermeister der Stadt einbestellt. Der drohte ihnen: Wenn ihr die Anzeige nicht zurückzieht, dann ist kein Platz mehr für euch in Tschetschenien. Und denkt daran: Ihr habt noch andere Söhne.

Nie habe ihr Sohn irgendetwas mit dem Islamischen Staat zu tun gehabt, beteuert die Mutter. Aber offenbar hatte er das Pech, im Telefonbuch der Attentäter von Grosnyj zu stehen.

Und doch gibt es auf dieser Oberfläche in Tschetschenien auch ein Leben für solche, die weder als Gladiatoren in den Boxclub „Achmat“ aufgenommen werden noch in Ramsans Sicherheitskräften Karriere machen wollen.

Selimchan und Chawa, 27 und 29 Jahre alt, sind zwei junge Menschen, die für ein ganz anderes Tsche­tschenien stehen. Er mixt – alkoholfreie  – Drinks in einem Café, sie gibt Musikstunden. Zusammen nennen sie sich „Echo Islands“: Sie singt mit zarter Stimme von Träumen und Liebe, er begleitet sie auf der Gitarre. Die beiden sind an diesem Ort tatsächlich wie eine Insel und gleichzeitig ein Echo der spätsowjetischen Ära, als Grosnyj eine von russischer, weltlicher Kultur dominierte Stadt war. Der Krieg aber hat die Russen vertrieben und mit ihr die tschetschenische Intelligenzija: Chawa wuchs im sibirischen Krasnojarsk auf, Selimchan unweit von St. Petersburg.

So sah es auf dem heutigen Putin-Prospekt 2005 aus: Grosnyj lag damals noch in Trümmern. / Tino Künzel

Heutzutage sind Chawa, Selimchan und die ihren in Grosnyj eine Minderheit. Es gibt genau eine Bar, wo sie auftreten können, vor 50 oder 60 Leuten. „Größer ist die Gemeinde von Leuten, die solche Musik hören, hier nicht“, sagt Selimchan lachend. Die Vorstellung, dass jemand tanzen könnte bei einem der Konzerte – absurd. „Die Tschetschenen denken: Oh Gott, wenn das ein Verwandter mitbekommt“, erklärt Chawa. Wenn sie mehr Gleichgesinnte treffen wollen, ja einfach etwas von dem, was sie aus ihrem früheren Leben kennen, dann fahren sie ins russische Wladikawkas oder in die georgische Hauptstadt Tiflis.

Aber egal, ob bei den Musikern Chawa und Selimchan, ob bei den vielen Menschen, die anonym bleiben müssen, selbst bei den Taxifahrern, die ausgenommen werden – trotz all dem Ärger fürchten die Menschen in Tschetschenien sich vor einem plötzlichen Ende der Ära Kadyrows. Zu groß ist die Angst vor einer Rückkehr von Krieg und Zerstörung.

Doch je länger der Krieg zurückliegt, desto schwächer wird das Argument „Kadyrow oder Chaos“. Und Ramsans zügelloser Polizeiapparat verschafft ihm immer mehr Familien, die noch eine Rechnung offen haben. Früher oder später wird der Moment der Wahrheit in Tschetschenien kommen – dann, wenn Ramsans Ziehvater Wladimir Putin den Kreml verlässt.

Moritz Gathmann

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