Berlin, die Mutter aller russischen Städte

Von der Wolga an die Spree: Die Russlanddeutsche Uljana Iljina (48), Lehrerin, Übersetzerin und Texterin, ist als Spätaussiedlerin nach Deutschland gekommen. In ihrer MDZ-Kolumne „Deutschland-Tagebuch“ schreibt sie aus Berlin darüber, wie sie ihre neue Heimat – die Heimat ihrer Vorfahren – erlebt.

Die Apotheke „Baba Jaga“ in Berlin. Was es hier wohl für Kräutermischungen zu kaufen gibt? (Foto: Uljana Iljina)

Ich mag Berlin. Es ist freizügig, international, vielsprachig. Mit einem Wort: lebendig. Erstaunlich die Architektur des Wiederaufbaus, auf Schritt und Tritt – die Erinnerung an die Berliner Mauer und die Tragödie des für lange Zeit geteilten deutschen Volkes, großartige Museen, die stille Spree und eine spannende Clubkultur. Mit einem Wort: Alles wie für mich gemacht.

Das „russische Berlin“ ist schon ein stehender Begriff. Als Emigranten kamen in mehreren Wellen auch namhafte Kunstschaffende wie Vladimir Nabokov, Ilja Ehrenburg, Andrej Bely und Alexander Wertinski hierher, zusammen mit vielen, vielen anderen. In Berlin gibt es jede Menge sogenannter „russischer Orte“. Mit einem Wort: Etwas Neues habe ich dazu nicht zu berichten. Ich kann nur von meinen Eindrücken und Erlebnissen erzählen.

Solche und solche „Russenläden“

Egal, wo man gerade ist, wird man in Berlin unbedingt jemanden Russisch sprechen hören. Auf Russisch nach dem Weg oder der nächsten U-Bahn-Station gefragt zu werden, ist völlig normal.

Ein Thema für sich sind die „Russenläden“. Sie sind in Deutschland ziemlich verbreitet. Meist handelt es sich um Lebensmittelgeschäfte mit einem breiten Sortiment an Waren, wo Menschen einkaufen, die an die russische Küche gewöhnt sind.

Bisweilen trifft man aber auch auf seltsame Vertreter dieser Branche. Neulich bin ich mit meinen Kindern in einen solchen Laden geraten. Die großen russischen Lettern hatten sie neugierig gemacht. Einmal drin, beachtete uns das Personal erst einmal nicht, obwohl wir die einzigen Kunden inmitten von halbleeren Regalen wie aus Sowjetzeiten waren. Es vergingen ein paar Minuten, bis eine miesepetrige Frau sich uns zuwandte und mit einem Gesichtsausdruck, als hätten wir ihr etwas getan, auf Russisch nach unserem Begehr fragte. Zu dem Zeitpunkt wollten wir eigentlich schon gar nichts mehr, aber kauften aus reiner Höflichkeit dann doch etwas. Als wir wieder draußen waren, fragte eine meiner Töchter: „Mama, was war das denn?“ Mir kam das Ganze so vor, als hätte mich gerade eine graue russische Vorzeit weit weg von Russland wieder eingeholt.

Russisch ist überall

In Berlin, wie auch anderswo in Deutschland, findet man mühelos russischsprachige Fachleute aller möglichen Berufe: Ärzte, Lehrer, Anwälte, Übersetzer und andere mehr. Verwunderlich ist das nicht, kamen doch allein Anfang der 1990er Jahre Hunderttausende Spätaussiedler aus dem postsowjetischen Raum nach Deutschland. Im vergangenen Jahr wurden hier außerdem mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, die in ihrer Mehrzahl ebenfalls Russisch sprechen. In kaukasischen Restaurants ist die gesamte Speisekarte auf Russisch.

In Deutschland tut man sich einigermaßen schwer, Entscheidungen zu treffen, aber dafür ist das Land sehr demokratisch. Gerade was Sprachen anbetrifft, fällt das besonders ins Auge. Ladenschilder kann man hier auf Deutsch, auf Türkisch, Arabisch oder Ukrainisch sehen. Und auf Russisch.

„Sie sind aus Russland?“

Ich habe noch kein einziges Mal erlebt, dass jemand wegen seiner geografischen Herkunft diskriminiert worden wäre. Mein Akzent zum Beispiel verrät sofort, dass ich aus einem slawischen Land komme. Als Erstes tippen viele auf die Ukraine. Wenn ich verneine, dann macht sich auf den Gesichtern ein heiteres Lächeln breit: „Sie sind aus Russland?“ Wie diese positive Reaktion zu erklären ist, weiß ich selbst nicht, aber die Leute freuen sich, sie fragen, wie es den Menschen in Russland geht, was sie bewegt, worauf sie hoffen, wie sie zurechtkommen. Jahrhundertelange kulturelle, politische und wirtschaftliche Verbindungen zwischen Deutschland und Russland lassen sich eben nicht in nur einem Jahr und von einer einzigen Person zerstören.

In Berlin gibt es viele russischsprachige Schulen, Kurse, Kunst- und Sportgemeinschaften. Der Staat fördert alle erdenklichen Initiativen, auch wenn sie mit der russischen Sprache verbunden sind. Manchmal muss ich einfach lachen, wenn ich zum Beispiel eine Apotheke namens Baba Jaga – eine klassische Märchenfigur – oder einen Imbiss mit der Bezeichnung „Otdochni-ka!“ (auf Deutsch etwa: Entspann dich!) sehe.

Doch natürlich setzt Integration voraus, sich vernünftig in der Landessprache verständigen zu können. Das ist überall auf der Welt so. Deutschland bietet Neuankömmlingen alle Chancen, Deutsch zu erlernen, sei es in der Willkommensklasse für Kinder, sei es durch Sprachkurse mit unterschiedlichen Niveaustufen oder durch Umschulungen in beliebigen Berufen. Alles, was man selbst mitbringen muss, ist die Bereitschaft zum Lernen. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.

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