Für den grauen Herbst wappnet sich Reiner Gumz, indem er noch einmal reichlich Sonne tankt. Mit seiner russischen Frau Olga macht der deutsche Rentner Urlaub in Antalya. Dort ist es heiß, aber noch heißer geht es in den Internetforen zu, die das Paar auch in der Türkei „ganz intensiv“ verfolgt, wie er am Telefon sagt. Die beiden leben überwiegend in Kostroma an der Wolga, doch Gumz hat auch einen Wohnsitz in Bremen. Zwei bis drei Mal im Jahr geht es mit dem Auto und per Ostseefähre hin und her. Im November ist die nächste Fahrt geplant. Doch nach den jüngsten Entwicklungen scheint nichts mehr sicher. Deshalb werden tagtäglich die Erfahrungsberichte und Diskussionen in den sozialen Netzwerken studiert, auch wenn das nicht unbedingt zu Erholung beiträgt.
Audi weg und wieder da
Im Juni hatten erstmals Nachrichten die Runde gemacht, wonach der deutsche Zoll in Norddeutschland Autos mit russischen Nummernschildern festsetze. Das betraf beispielsweise den Russen Iwan Kowal, der in Deutschland lebt und nach dessen Worten sein Audi Q3 vor seinem Haus in Hamburg konfisziert wurde. Der Zoll habe sich dabei auf Sanktionen gegen Russland und die EU-Verordnung 833/2014 berufen, die bereits 2014 erlassen wurde und Strafmaßnahmen wegen „Handlungen zur Destabilisierung der Situation in der Ukraine“ enthält. Sechs Wochen später bekam Kowal sein Fahrzeug auf Geheiß der Staatsanwaltschaft zurück.
Andere Betroffene waren mit der Fähre aus Ostsee-Anrainerstaaten in Travemünde eingereist oder auf ihrem Rückweg unterwegs dorthin. Da letztlich aber nur wenige solche Fälle publik wurden, blieben Fragen offen, was das wohl zu bedeuten hat.
Was unter die Regelung fällt
Am 8. September hat nun die Europäische Kommission eine Klarstellung veröffentlicht. Demzufolge sind allein schon die Einreise und das Fahren mit einem in Russland zugelassenen Pkw ein Verstoß gegen die Sanktionen, auch wenn ein persönlicher Gebrauch vorliegt. Das sorgte für Irritationen, denn der Hintergrund des Vorgehens gegen Privatbesitz von Russen ist laut Verordnung, dass damit ein erheblicher Gewinn für den russischen Staat unterbunden und so eine indirekte Unterstützung der „Destabilisierung“ verhindert werden soll. Welchen Vorteil Russland aus Autofahrten von Russen innerhalb der EU zieht, liegt aber zumindest nicht auf der Hand. Mehr noch: Aus dem Anhang zum entsprechenden Artikel 3i wird ersichtlich, dass sich das Einfuhrverbot längst nicht nur auf Autos erstreckt. Aufgeführt sind dort unter anderem auch Mobiltelefone, Laptops, Fotoapparate, Koffer und Toilettenartikel bis hin zum Klopapier. Damit würde eine Reise in die EU praktisch unmöglich gemacht.
Der deutsche Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky von den Grünen hat die Auslegung der Maßnahmen in einem Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, aus dem die in Lettland ansässige russischsprachige Internetzeitung „Meduza“ (in Russland als „ausländischer Agent“ und „unerwünschte Organisation“ eingestuft) zitierte, kritisiert. Damit werde das Embargo als solches diskreditiert. Lagodinsky spricht von einem „juristischen und politischen Fehler“.
Die EU-Kommission hat inzwischen einen verhältnismäßigen und vernünftigen Umgang mit den Bestimmungen angemahnt. Deren Handhabung, das wurde wiederholt betont, bleibt den einzelnen Mitgliedsländern überlassen.
Einreisesperren von Litauen bis Finnland
Seitdem haben die drei baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland nacheinander erklärt, Autos mit russischen Kennzeichen gar nicht erst über die Grenze zu lassen. Litauen nimmt davon nur den Transit nach Kaliningrad aus. Der estnische Außenminister Margus Tsahkna garnierte die Entscheidung zum Verbot mit dem Satz: „Staatsbürger der Russischen Föderation sollten nicht die Freiheiten in Estland genießen dürfen.“
Für Russen mit einem handelsüblichen Schengenvisum ändert sich allerdings nichts. Ihnen ist die Einreise nach Estland und in die anderen baltischen Staaten mit wenigen Ausnahmen schon seit einem Jahr untersagt. Die Neuerung dürfte in erster Linie russischen Inhabern einer Aufenthaltsgenehmigung das Leben erschweren.
Als Herr Gumz an Herrn Lindner schrieb
Und es wird noch interessanter: Zumindest Litauen will offenbar nicht zwischen Russen und EU-Bürgern als Fahrzeughalter unterscheiden. Das sei egal, solange das Auto ein russisches Kennzeichen habe, sagte die litauische Vize-Außenministerin Jovita Neliupšienė dem Radiosender LRT. Man werde nicht in den Pass schauen, sondern auf das Nummernschild, ließ sich ihre Behörde zitieren.
Das hat Reiner Gumz hellhörig werden lassen. Er fährt einen SUV vom Typ Nissan X-Trail, gekauft und zugelassen vor knapp zwei Jahren in Russland. EU-Bürger und ihre Angehörigen sind laut Punkt 3a des Artikels 3i der Verordnung 833/2014 von ihr ausgenommen. In die Ungewissheit dieses Sommers hinein hat Gumz sogar den deutschen Finanzminister Christian Lindner angeschrieben, ob damit denn gewährleistet sei, dass ihm nicht nächstens in Deutschland sein Auto abhandenkommt. Er wurde ans Wirtschaftsministerium und von dort an die Generalzolldirektion in Dresden weiterverwiesen. Die habe bestätigt, dass die Ausnahmegenehmigung für ihn gelte, sagt der 75-Jährige.
Im Frühjahr sei er vom Zoll in der Nähe von Bremen schon einmal angehalten worden. Auf die Frage, ob er Deutsch spreche, konnte er nach einem Ja endlich den Satz anbringen, den er sich schon lange zurechtgelegt hatte: „Es ist nicht immer drin, was draufsteht.“ Daraufhin hätten alle gelacht. Es habe sich auch nur um eine Routinekontrolle gehandelt ohne weitere Konsequenzen gehandelt.
„Überzeugt, Recht zu bekommen“
Die MDZ weiß von einigen Moskauer Deutschen, die in den letzten Wochen und Monaten ihre Autos lieber in Russland stehen lassen haben, als sie nach Deutschland gereist sind. Gumz, der 30 Jahre im Strafvollzug gearbeitet hat, schließt derweil nicht aus, gegen die EU zu klagen, sollte er nicht mehr mit seinem Pkw nach Deutschland gelangen und dort unbehelligt vom Zoll bleiben können. Aus seiner Dienstzeit habe er einige Erfahrung im Umgang mit Beschwerden und sei in diesem Fall „überzeugt, Recht zu bekommen“.
Aber noch ist es nicht so weit. Zumindest Finnland erlaubt bisher weiterhin die Einreise mit russischem Kennzeichen, wenn auch seit 16. September nur noch für EU-Bürger und ihre Familien. Ansonsten ist auch diese Grenze nicht mehr passierbar, wie Außenministerin Elina Valtonen bekanntgab. Alle Fahrzeuge mit russischen Nummernschildern, die sich noch auf finnischem Territorium befinden, müssen das Land bis zum 16. März 2024 verlassen haben.
Tino Künzel