Bus oder …?
St. Petersburg ist Europa. Oder zumindest ein „Fenster nach Europa“, wie man in Russland sagt. Gefühlt ist dieses Europa, also das im Westen, zuletzt in weite Ferne gerückt. Keine Flüge (beziehungsweise nur mit Zwischenstation außerhalb der EU), keine Schiffe und keine Züge gehen mehr dorthin. Einzig Fernbusse halten, neben dem Pkw- und Lkw-Verkehr, die Verbindung von hüben nach drüben aufrecht. Sie fahren vor allem von St. Petersburg nach Tallinn im benachbarten Estland.
Das Geschäft auf der Strecke teilen sich mehrere Busgesellschaften mit Sitz überwiegend in den Ländern des Baltikums. Allein Lux Express aus Estland fährt täglich acht- bis neunmal in beide Richtungen. Meist sind die Tickets dabei Tage im Voraus ausverkauft oder höchstens noch einzelne erhältlich (38 bis 55 Euro).
Mein Plan ist es, mich nach Tallinn durchzuschlagen und dort einen Flieger nach Berlin zu nehmen. Auf fünf oder sechs Stunden Fahrt in einem vollbesetzten, wenn auch komfortablen Bus habe ich keine Lust. Je mehr Mitreisende, desto länger muss zudem an der russisch-estnischen Grenze gewartet werden, bis auch der letzte Passagier kontrolliert wurde – und das gleich zweimal.
Ramil
Ich entscheide mich deshalb, die Tour in Etappen anzugehen und die Grenze zu Fuß zu überqueren. Dass ich mich damit in Schwierigkeiten bringe, von denen ich als Buspassagier gar nichts geahnt hätte, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Etappe Nummer eins führt also 150 Kilometer von St. Petersburg bis zur Grenze und den Grenzstädten Iwangorod auf russischer und Narva auf estnischer Seite. Zwischen ihnen liegt die Narva, sie verbindet den Peipussee (von dem weiter unten noch die Rede sein wird) mit der Ostsee.
Bei Blablacar bietet Ramil eine Mitfahrgelegenheit für umgerechnet fünf Euro an. Der beleibte Mittvierziger lotst seinen Chevrolet Cruze unaufgeregt durch den Nachmittagsverkehr. Durchaus aufgeregt spricht er dabei allerdings über die Esten. Sie scheinen ihm nichts recht machen zu können, was offenbar daran liegt, dass Estland generell zu den lautesten Kritikern Russlands in der EU gehört. Die lange Rede läuft auf den kurzen Sinn hinaus, dass alle Versuche, die Russen unter Druck setzen oder sie bestrafen zu wollen, ins Leere laufen, denn: „Russland findet immer einen Ausweg.“ Der Westen werde schon sehen, was er von seiner Sanktionspolitik hat.
Iwangorod zum Ersten
Nach Iwangorod zu urteilen, kümmert sich Russland generell nicht sonderlich um seine Außenwirkung. Wer von der anderen Seite des Grenzflusses Narva herüberkommt, den empfängt als Erstes ein Provinzstädtchen, das schwerlich zum Schaufenster taugt. Ganz in der Nähe der Brücke über die Narva sollte sich eigentlich der Busbahnhof befinden, doch vor Ort ist die Standortbestimmung nicht so einfach. Die Wegweiser deuten auf einen leeren Platz mit einem vergitterten und verriegelten Büdchen in der Mitte hin. Ein älterer Mann, der dort Straßenkatzen füttert, zeigt auf überwucherte Reste von Bauschutt: Wenn man sich Mühe gebe, könne man in ihnen noch das Fundament des Busbahnhofs erkennen, sagt er. Der Fahrplan sei übrigens einem Plakat an einem Zaun auf der anderen Straßenseite zu entnehmen.
Was durchkommende Ausländer wohl von solchen Kalamitäten halten, ist im Zweifelsfall gar nicht so wichtig. Sie fahren weiter nach St. Petersburg, berauschen sich womöglich an der ehemaligen Zarenhauptstadt und machen ihr Russlandbild nicht ausgerechnet an einem Grenzort fest, der zumindest auf den ersten und sogar zweiten Blick kaum Eindruck zu schinden vermag. Eher stellt sich da schon die Frage, wie gut es Iwangorod eigentlich mit seiner eigenen Bevölkerung meint. 9100 Menschen leben nach letzten Erhebungen hier.
Meilensteine
Wenn sich eine Grenze zwischen Ost und West schon im Mittelalter abgezeichnet hat, dann ist es die an der Narva. Mit der Schlacht auf dem Eis des nahegelegenen Peipussees wurde 1242 der Ostexpansion des Deutschen Ordens ein Ende gesetzt. Vom Nowgoroder Fürsten Alexander Newski geschlagen, musste der Orden im Friedensabkommen der Narva als dauerhafte Grenze zustimmen.
Das war allerdings längst nicht das letzte Mal, dass hier europäische Geschichte geschrieben wurde. Zweieinhalb Jahrhunderte später verewigte sie sich sogar in einem Bauwerk, das bis heute neben der Grenze ein zweiter Grund dafür ist, weshalb sich Auswärtige nach Iwangorod verirren. 1492, im selben Jahr, als Christoph Kolumbus unverhofft in Amerika an Land ging, ließ der Moskauer Großfürst Iwan III. am Ostufer der Narva eine mächtige Festung errichten, die als westlichster Vorposten Russlands dienen sollte.
Auch „Der Große“ und in manchen Quellen „Zar“ genannt, war der Großvater von Iwan dem Schrecklichen einer der einflussreichsten Herrscher seiner Zeit. Durch Feldzüge gegen Nachbarn wie das Großfürstentum Litauen, aber auch durch die Vereinigung der russischen Kleinstaaten mit Moskau als Zentrum vervierfachte er das Staatsgebiet, kassierte dabei die Unabhängigkeit von Nowgorod und löste sein Reich aus der Abhängigkeit von der Goldenen Horde. Der Moskauer Kreml wurde unter ihm zum Inbegriff des Selbstverständnisses einer neuen europäischen Großmacht.
Eine geteilte Stadt
Dass Iwangorod diesen Geopolitiker im Namen trägt, ist allein schon Ausdruck von historischer Bedeutung. Als Zeugnis der bewegten Vergangenheit thront auch die Festung wie eh und je über der Narva. Das Bollwerk hielt so manchem Angriff stand, allerdings konnten nicht alle Feinde zurückgeschlagen werden. Die kamen mal zu zu Pferde, mal im Panzer. Im 16. und 17. Jahrhundert hatten hier die Schweden das Sagen. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg war die Stadt von den Deutschen besetzt.
Über Jahrhunderte verstand sich Iwangorod als eine Art zweite Hälfte von Narva gegenüber. In ihrer Geschichte gehörten diese beiden Teile eines Ganzen auch so gut wie immer zu ein und demselben Staat: So befand sich auch Iwangorod von 1920 bis 1940 innerhalb der Grenzen des von Russland unabhängig gewordenen Estlands. Später erstreckte sich die Sowjetunion über beide Ufer. Erst seit deren Auflösung 1991 verläuft zwischen ihnen eine Staatsgrenze. Sie ist seit 2004 auch die Außengrenze von EU und Nato.
Die Grenze vor der Grenze
Die Hotel-App Ostrovok zeigt eine einzige Übernachtungsmöglichkeit in Iwangorod an – ein Hostel mit dem kuriosen Namen „Von Baron“. Nachdem die Buchung bestätigt ist, mache ich mich auf den Weg, immer die Gagarin-Straße entlang. Der Kartendienst veranschlagt eine halbe Stunde für den Fußmarsch von der Ortsmitte, mit geschultertem Gepäck erweist sich das als sehr optimistisch. Unterwegs werden die Bahngleise passiert. Seit 1870 existierte hier eine Verbindung zwischen St. Petersburg und Tallinn, die allerdings 2007 endgültig eingestellt wurde. Der Nachtzug Moskau-Tallinn wiederum fiel im Frühjahr 2020 den Corona-Maßnahmen zum Opfer. Über eine Wiederaufnahme des Betriebs ist nichts bekannt. Einstweilen wird Iwangorod nur von einem einzigen täglichen Vorortzug aus St. Petersburg angefahren. Im grenzüberschreitenden Verkehr kommen hier nur noch Güterzüge durch.
Der Empfang im Hostel ist durchaus freundlich. Doch der deutsche Reisepass des abgekämpften Gastes sorgt an der Rezeption für Stirnrunzeln. Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein, erfahre ich. „Wenn eine Kontrolle kommt, dann kriegen wir Probleme.“ Denn Iwangorod ist als Grenzort eine sogenannte geschlossene Stadt. Der Aufwand, den die damit verbundenen besonderen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen auf beiden Seiten – beim Staat und den Bürgern – verursachen, würde besser in eine konstruktivere Richtung gelenkt, sollte man meinen. Aber ein bisschen Sowjetunion muss scheinbar auch im Jahr 2022 sein.
FSB
Russen brauchen für den Besuch von Iwangorod einen Reisepass und entweder eine Sondererlaubnis oder aber ein Schengen-Visum, wenn lediglich die Durchreise beabsichtigt ist. Immer wieder müssen nichtsahnende Auswärtige, die einen Ausflug zur Festung unternehmen wollten und nicht darauf gefasst waren, dass ganz Iwangorod etwas von einer Festung hat, schon einige Kilometer vor der Stadt wieder umkehren. Dort kontrolliert ein Straßenposten die Papiere: Weiter geht es nur für die, die sich vorbereitet haben oder wie gesagt nur auf der Durchreise sind. Das Hostel „Von Baron“ muss seine Gäste als Dienstreisende deklarieren, damit alles seine Ordnung hat.
Mich hat der Straßenposten auf der Rückbank des Autos von Ramil entweder nicht bemerkt oder aber ignoriert. Gegen die Weiterfahrt im Transit hätte ohnehin nichts gesprochen. Aber vielleicht wäre ein Hinweis erfolgt, dass Iwangorod geradewegs passiert werden muss und eine Übernachtung zwei Kilometer abseits der Hauptstraße nicht als „geradewegs“ ausgelegt werden kann.
Das tolle Hostel – für das ich hier guten Gewissens Werbung betreiben würde, wenn es sich denn lohnte – schickt mich dankenswerterweise nicht einfach wieder weg. Es wird hin und her telefoniert, bis sogar ein Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB (der für die Grenzkontrolle zuständig ist) in dem Backsteinbau auftaucht. Er blättert in meinem Pass und sagt etwas von einer „Ordnungswidrigkeit“, die ich begangen hätte. Muss ich nun auch noch Strafe zahlen? Der Mann greift zum Hörer, schildert einer Stimme am anderen Ende der Leitung die Lage und fragt, was man da machen könne. Kurz darauf drückt er mir lächelnd den Pass in die Hand. Alles gut, schönen Abend noch. Nur solle ich mich anderntags dann doch bitte ohne weitere Umschweife zur Grenze begeben.
Iwangorod zum Zweiten
Der Fußmarsch vom Zentrum an die Peripherie von Iwangorod verschlägt den Gast unvermittelt in eine ganz andere Welt. Parussinka wird dieser Außenbezirk genannt, das kommt von Parussina, dem Segeltuch. Einst standen hier die führenden Textilbetriebe des Zarenreiches, in denen auch nach ihrer Verstaatlichung zu Sowjetzeiten Tausende Menschen beschäftigt waren. Was von den Werken übriggeblieben ist, befindet sich heute zum Teil auf russischem, zum Teil auf estnischem Gebiet.
Das Arbeiterviertel Parussinka auf einer von der Narva umspülten Insel hat eine sehr spezielle Aura. Seine Wohnhäuser wurden teils nach englischem Vorbild angelegt, teils handelt es sich auch um umgebaute Fabrikgebäude. Die enge Straße der Textilarbeiter mit ihren Torbögen, Treppen und Türmchen könnten ohne großen Aufwand als Kulisse für einen Film über längst vergangene Zeiten dienen. Ihre Uferterrasse hoch über der Narva bietet einen Logenblick hinüber auf die estnische Seite. Wenn das Wasserkraftwerk Narva seine Schleusen öffnet und sich Wassermassen über den felsigen Untergrund ergießen, ist hier der beste Platz, um dieses Spektakel zu verfolgen.
Was Parussinka allerdings auch bietet, ist ein Bild des Verfalls. Der progressive Geist, der hier einmal geherrscht haben muss, scheint schon vor Ewigkeiten verflogen zu sein. Das Fabrikgelände wurde seit Einstellung der Produktion in den 1990er Jahren mehr oder weniger sich selbst überlassen. Auch das prominenteste Gebäude des Viertels ist eine Ruine: In das ehemalige Gasometer zogen in den 1950er Jahren ein Laden (erste Etage) und eine Werkskantine (zweite Etage) ein, heute ist es eine Sehenswürdigkeit der Marke „Lost Place“. Der Platz davor wurde unlängst neu gepflastert und mit Sitzbänken versehen. Sie sind der passende Ort, um zu verweilen und über die Merkwürdigkeiten der Evolution zu sinnieren.
Stieglitz
Das reiche – oder müsste es heißen: arme? – Erbe aus der Epoche der Industrialisierung ist eng verbunden mit einem deutschen Namen: Stieglitz. Ludwig Stieglitz, der aus dem Hessischen stammte, war Hofbankier von Zar Alexander I. und dessen Nachfolger Nikolaus I., in Russland wurde ihm der Adelstitel Baron verliehen. 1829 übernahm er eine heruntergewirtschaftete Tuchfabrik an der Narva und brachte sie wieder auf Vordermann. Sein Sohn, Baron Alexander von Stieglitz, ließ die Firma ab Mitte des 19. Jahrhunderts kräftig ausbauen. Die Flachsspinnerei belieferte unter anderem die russische Flotte. Für seine Arbeiter ließ Stieglitz ein nach damaligen Maßstäben vorbildliches Wohnviertel errichten, mit sozialer Infrastruktur bis hin zum Krankenhaus, mit einem Park (wo sich sein Gut befand) und mit der schmucken Dreifaltigkeitskirche an der Narva, in der er später selbst beigesetzt wurde.
Der Baron wird in Iwangorod bis heute verehrt, nicht umsonst heißt auch das Hostel so, wie es heißt. Die von Stieglitz 1876 gegründete renommierte Hochschule für Kunst und Design in St. Petersburg trägt seit 1994 wieder seinen Namen, nachdem sie zu Sowjetzeiten nach der Bildhauerin Vera Muchina („Arbeiter und Kolchosbäuerin“) umbenannt worden war. Geht es nach der Stiftung „Baron-Stieglitz-Erbe“, könnten die Studenten künftig auch auf dem ehemaligen Fabrikgelände in Iwangorod ausgebildet werden. Die Werkhallen wurden der Stiftung kürzlich zur Nutzung überlassen. Sie will ihnen mit der Zeit wieder Leben einhauchen, Museen, Werkstätten, Kultur- und Bildungseinrichtungen dort ansiedeln. Mit staatlichen Fördergeldern aus dem Topf des sogenannten Präsidenten-Fonds konnten zumindest schon erste Aufräumarbeiten beginnen.
Knoop
Doch den Ruhm des „russischen Manchester“ an der Narva begründete auch Ludwig Knoop, ein weiterer deutscher Großindustrieller. Seine Textilmanufaktur auf der benachbarten Kräheninsel (Kreenholm) war seinerzeit eine der größten der Welt und beschäftigte in der Spitze 4500 Arbeiter. Knoop, ein Kaufmann aus Bremen, hatte sein Handwerk in England gelernt. Zu einem der reichsten Deutschen wurde er durch die Lieferung ganzer Fabriken nach Russland, wo er sein halbes Leben verbrachte und ein Haus in Moskau hatte.
Auch Knoop – dessen Ur-Ur-Urenkelin Ursula von der Leyen heute EU-Kommissionspräsidentin ist – wurde 1876 in Russland zum Baron ernannt. Er starb 1894 in Bremen, bevor sein Firmenimperium unter die Räder der russische Revolution geriet. Als auch die Sowjetunion unterging, wurde der Betrieb auf der Kräheninsel 1994 wieder privatisiert. Nach einer Insolvenz läuft die Produktion inzwischen auf Sparflamme weiter.
Anders als zu den Zeiten von Stieglitz und Knoop sind ihre Fabriken heute durch eine Staatsgrenze getrennt. Das riesige Knoopsche Firmenareal ist bereits Estland und in deutlich besserem Zustand als sein Pendant auf russischer Seite. Auch für Kulturveranstaltungen erfreut sich die Industrielandschaft großer Beliebtheit. Doch von ihrer ehemaligen Vorreiterrolle, als Deutsche hier prosperierende Unternehmen von internationalem Ruf schufen, sind sowohl Iwangorod als auch Narva heute meilenweit entfernt.
Fußwege über die Grenze
Es gibt zwei Grenzübergänge an dieser Stelle. Der eine ist eine reine Fußgängerbrücke von Parussinka hinüber auf die andere Seite: „Narva-2“. Die beiden Städte sind sich hier so nahe wie einst Ost- und West-Berlin. Die Brücke ist jedoch nur dem kleinen Grenzverkehr russischer und estnischer Staatsbürger vorbehalten.
Aber auch „Narva-1“ mit der großen Autobrücke ist für Fußgänger ausgelegt. Ausländer werden problemlos abgefertigt, bei mir dauerte das keine fünf Minuten. Je weiter man unterwegs die Festung Iwangorod hinter sich lässt, desto näher kommt man der Hermannsfeste des Deutschen Ordens auf der anderen Seite der Narva. Die beiden uralten Wehranlagen auf ihren Anhöhen stehen sich direkt gegenüber. Am kürzesten Punkt liegen zwischen ihren Außenmauern nur 130 Meter. Aber so, wie sich die Dinge zuletzt entwickelt haben, sind es eher Welten.
Am Kontrollpunkt auf russischer Seite kündet ein Schild davon, dass der Grenzübergang mit EU-Geldern rekonstruiert wurde. „United by borders“ lautete das Motto. Mit „Cross Border Cooperation“ will die EU Grenzregionen fördern und grenzübergreifende Probleme anpacken. Spuren des Programms finden sich in Iwangorod auch anderswo. Doch nach dem 24. Februar wurde es von EU-Seite gestoppt. „United“ läuft gerade nicht viel.
Russisches Estland
Narva ist ungefähr fünfmal so groß wie Iwangorod und die drittgrößte Stadt Estlands nach Tallinn und Tartu. Eine Grenzbeamtin spricht mich auf Russisch an, was zunächst irritiert. Aber auch als ich später kreuz und quer durch Narva laufe, höre ich die Menschen ausschließlich Russisch sprechen. Nach amtlichen Angaben sind 87 Prozent der Einwohner ethnische Russen, manche Quellen nennen noch höhere Zahlen.
Im Zweiten Weltkrieg wurde Narva übel zugerichtet. Heute ist es eine in Teilen sowjetisch anmutende und offenkundig nicht wohlhabende, aber speziell in den Vierteln am Fluss sehr grüne und angenehme Stadt, ein urbaner Gegenentwurf zu Iwangorod. Das Steilufer der Narva ist von Parks und einer belebten Uferpromenade gesäumt, die bis zum Stadtstrand reicht und in jüngerer Zeit auch stark von einem Kooperationsprojekt namens „River Promenades II“ profitiert hat. In Narva und Iwangorod sollten damit zwischen 2012 und 2014 die Uferbereiche aufgewertet werden. 90 Prozent der Kosten in Höhe von 1,7 Millionen Euro trug die EU, den Rest teilten sich die beiden Städte. In Iwangorod reichte das Geld nur dazu, einen ca. 100 Meter langen Uferabschnitt herzurichten, der nur mit viel Wohlwollen als „Promenade“ bezeichnet werden kann (hier einige Kommentare von Besuchern).
Mit dem Rathaus aus dem 17. Jahrhundert ist in Narva bereits in den 1960er Jahren auch ein sehenswertes Baudenkmal wiederaufgebaut worden. Und: Wenn schon keinen Busbahnhof im eigentlichen Sinne, so hat die Stadt doch zumindest ein überdachtes Busterminal, wo auch reger Verkehr herrscht. Gleich daneben: der niedliche Bahnhof, von dem täglich vier Regionalzüge nach Tallinn abfahren. Die estnische Bahngesellschaft Elron berechnet für die bis zu zweieinhalbstündige Fahrt zwischen 10 und 13 Euro. An den Zügen gibt es nichts auszusetzen: Von WLAN über Steckdosen bis hin zur Klimaanlage ist alles an Bord.
Tallinn
Deutsche Spuren lassen sich auch in Tallinn, dem alten Reval, finden. Die Hansestadt wurde in ihrer Frühgeschichte maßgeblich von dänischen und deutschen Landesherren geprägt. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Deutsche hier die größte Bevölkerungsgruppe, Anfang des 20. Jahrhunderts immer noch die zweitgrößte.
Doch von den letzten gut 300 Jahren war die estnische Hauptstadt rund 200 Jahre russisch und noch einmal 51 Jahre sowjetisch. Zu einer innigen emotionalen Verbundenheit mit dem großen Nachbarn scheint das nicht geführt zu haben, im Gegenteil. Estland vertritt in seinen Beziehungen zu Russland oft eine harte Linie. So werden bereits seit März keine Touristenvisa mehr an Staatsbürger Russlands ausgestellt. Inzwischen gilt das auch für Studentenvisa und Aufenthaltsgenehmigungen. Weil jedoch immer noch viele Russen mit von anderen Ländern ausgestellten Schengen-Visa einreisen, fordert Estland einen europaweiten Visabann.
Die große russische Minderheit in Tallinn macht mehr als ein Drittel der Einwohnerschaft aus. In der Altstadt, die ein wahres Weltwunder ist, dominiert allerdings Englisch. Sightseeing-Touristen aus aller Herren Länder geben dort den Ton an, nachts werden sie von den Party-Touristen abgelöst.
Die russische Botschaft in Tallinn ist nicht zu verfehlen. Nicht nur liegt sie äußerst zentral nur ein paar Schritte vom Rathausplatz entfernt, sondern wird auch besonders bewacht. Ihre der Straße zugewandte Seite ist mit Plakaten gegen die „militärische Sonderoperation“ in der Ukraine übersät. Ein früherer russischer Präsident wird an anderer Stelle geehrt: Eine Plakette erinnert am Rande des Stadtkerns an Boris Jelzin „für seine Rolle bei der friedlichen Wiederherstellung von Estlands Unabhängigkeit in den Jahren 1990–1991“.
Ein Flug über drei Ecken
Der Flughafen von Tallinn ist klein, aber fein und sogar mit der Straßenbahn zu erreichen. Während selbst berühmte Vorbilder vor allem funktional ausgestattet sind, fühlt man sich hier ein bisschen wie im Wohnzimmer – oder irgendwo zwischen Kinderspielplatz und Business-Lounge. Auf den verschiedensten Sitzmöbeln vergeht die Zeit, nun ja, wie im Flug. Oder wie wäre es mit einer Partie Tischtennis?
Benannt ist der Flughafen nach Lennart Meri, dem ersten Außenminister und zweiten Präsidenten Estlands in postsowjetischer Zeit. Der Schriftsteller, einer der einflussreichsten estnischen Intellektuellen der Wendejahre, kannte Russland aus eigener Anschauung: Als Zwölfjähriger wurde der Diplomatensohn, der unter anderem in Berlin aufgewachsen war, 1941 mit seiner Familie nach Sibirien zwangsumgesiedelt, so wie viele Tausend andere Balten. Erst in den 1950er Jahren erlaubte man ihnen die Rückkehr.
Ich fliege zwar nach Berlin, aber die Suchmaschine hat eine interessante Reiseroute über Helsinki und Warschau ausgespuckt. Das ist so ziemlich die kostengünstigste Option und nimmt wegen kurzer Umsteigezeiten auch nur fünfeinhalb Stunden in Anspruch. Dass die Flüge allerdings von zwei verschiedenen Fluggesellschaften abgewickelt werden, nämlich Finnair und LOT Polish Airlines, gibt der Dame am Check-in in Tallinn zu denken. Nicht dass unterwegs mein aufgegebenes Gepäck verlorengeht! Sie wirkt unsicher, führt ein Telefonat, wirkt immer noch unsicher, meint aber, ich müsste mir keine Sorgen machen, das Gepäck sei auf jeden Fall bis Berlin durchgecheckt.
Kofferchaos in Berlin
Doch am BER lande heute nur ich. Meine Tasche kommt erst einen Tag später an. Und es wird zwei Wochen dauern, bis ich davon erfahre. Zunächst bin ich gar nicht sonderlich beunruhigt: Dass Gepäck irgendwo liegenbleibt und dann eben nachgeliefert wird, habe ich schon erlebt. Das ist zwar erst mal eine böse Überraschung mit durchaus unangenehmen Folgen, aber nun auch kein Weltuntergang. Als ich den Verlust jedoch am Fundbüro-Schalter in der Gepäckausgabe von Terminal 2 melden will, werden die kleinen Sorgen langsam größer. Der Schalter ist nicht besetzt, es wird auf Terminal 1 verwiesen.
Doch um dort aus der Abfertigungshalle wiederum in den Bereich der Gepäckausgabe zu gelangen, wo sich die Gepäckermittlung befindet, stehen die Betroffenen erst einmal vor einer Glastür. Daneben: drei Klingelknöpfe für die drei Firmen, die jeweils für bestimmte Fluggesellschaften zuständig sind. In meinem Fall ist das die Aeroground Berlin GmbH. Die Klingel zu betätigen, ist aber zwecklos: Es antwortet keiner. Erst als sich um die 20 Menschen vor der Tür versammelt haben, lässt sich ein Mitarbeiter erweichen, uns hineinzulassen.
Nun heißt es mindestens eine Stunde Schlange stehen an einem Schalter, der von zwei Mitarbeitern besetzt ist. Viele in der Schlange warten teils seit Wochen auf ihr Gepäck und sind der Verzweiflung nah. Am Schalter heißt es, in Berlin seien aktuell 5000 Koffer gestrandet.
Glück im Unglück
Als ich an der Reihe bin, bekomme ich nach Protokollierung aller Daten eine Referenznummer. Man werde sich melden, klingt der Mann eigentlich recht zuversichtlich. Eine Leidensgenossin schaut mich mitfühlend an und sagt: „Das klappt sowieso nicht.“ Leider soll sie recht behalten.
Nachdem zwei Wochen vergangen sind, in denen ich weder etwas von Aeroground gehört habe noch die Firma auf Nachfragen geantwortet hätte oder telefonisch zu erreichen gewesen wäre, versuche ich es noch einmal persönlich im BER, auch wenn das hin und zurück eine Tagesreise ist. Vor Ort bin ich längst nicht der Einzige, der zum zweiten oder dritten Mal hier ist. Die Leute haben schon alle möglichen Enttäuschungen erlebt und reagieren skeptisch bis spöttisch auf jede Information, sind aber auch dankbar für das kleinste bisschen Hoffnung und konkrete Hilfe.
Bei Aeroground kümmert man sich. Früh am Morgen ist der Andrang auch noch überschaubar. Ich weiß bald, dass meine Tasche irgendwo auf dem Flughafengelände sein muss. In einer Halle mit Hunderten Koffern, wo man selbst suchen darf, ist sie jedoch nicht. Eine Mitarbeiterin scannt den Gepäckaufkleber auf meiner Bordkarte, hat danach eine Vermutung, schickt eine Kollegin los in eine andere Halle. Kurze Zeit später halte ich tatsächlich das vermisste Gepäckstück in den Händen. War es klar, dass das so kommen musste? Ich würde eher sagen: Glück gehabt. Als ich nach mehreren Stunden erleichtert den Heimweg antrete, sind andere, die zusammen mit mir eingelassen wurden, noch immer auf der Suche, zunehmend ratlos.
Tino Künzel (Text + Fotos)