
Dort, wo die Rote Armee im Sommer 1944 die deutschen Verteidigungslinien durchbrach und Narva befreite, erinnerte in den letzten 52 Jahren ein Sowjetpanzer an die Ereignisse. Die zum ganz überwiegenden Teil russischstämmige Bevölkerung der estnischen Stadt an der Grenze zu Russland gedachte dort jedes Jahr am 9. Mai des Kriegsendes. Als unlängst Pläne der Regierung in Tallinn bekannt wurden, die verbliebenen geschätzt 200 bis 400 sowjetischen Kriegsdenkmäler im Lande aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, scharten sich Verteidiger um den T-34-85, drapierten ihn mit Blumen und Kerzen. Doch an einem Dienstag im August wurde er trotzdem verladen und in ein Militärmuseum abtransportiert (worüber der russische Fernsehsender Moskwa24 so berichtete).


Gedenken solle auf dem Friedhof stattfinden, hatte die estnische Premierministerin Kaja Kallas zuvor gesagt. Panzer seien keine Gedenkorte, sondern Todeswaffen. Man habe schnell handeln müssen, um Russland nicht die Möglichkeit zu geben, die Vergangenheit und die „von einer fremden Macht“ errichteten Denkmäler zu benutzen, um die Gesellschaft zu spalten und alte Wunden aufzureißen. Der Staat habe die Aufgabe, sowohl den äußeren als auch den inneren Frieden zu gewährleisten.
Russische Urlauber unerwünscht
Estland war selbst bis 1991 sowjetisch, betrachtet diese Zeit jedoch als Okkupation. Wie die Nachbarländer Lettland und Litauen, die ebenfalls 1940 nach jeweils kurzer Unabhängigkeit der Sowjetunion beitraten, versucht es sich bis heute vor allem mental von Russland zu lösen, aber auch physisch. Kallas und ihre Regierung wollen, dass sich die Schengen-Staaten darauf einigen, keine Touristenvisa mehr an Russen zu vergeben.
Dass ausgerechnet das kleine Estland zu den größten Fürsprechern einer solchen Initiative gehört, erklärt sie damit, dass wegen der gegenseitigen Sperrung des Luftraums die meisten Russen nun den Landweg nähmen, um nach Europa einzureisen. Wenn also andere der 26 Schengen-Länder Touristenvisa gewährten, dann hätten Estland, Lettland und Finnland Massen russischer Touristen im Transit zu verkraften. Damit müsse Schlus sein, der Tourismus aus Russland gehöre „jetzt“ gestoppt, twitterte sie jüngst. Und überhaupt: Reisen nach Europa seien „ein Privileg, kein Menschenrecht“.
Welche Länder keine Visa erteilen
Dass die Russen nicht im Westen Urlaub machen sollten, als sei nichts geschehen, während in der Ukraine gekämpft wird, sehen auch andere Länder so. Neben den baltischen Staaten hat ein halbes Dutzend weiterer Nationen – Dänemark, die Niederlande, Belgien, Malta, Tschechien und die Slowakei – die Vergabe von Touristenvisa an russische Bürger eingestellt. Mit einem Schengen-Visum eines anderen Landes können die jedoch weiterhin einreisen.
Deshalb wurden zuletzt die Forderungen nach einer europaweiten Visasperre immer lauter. So sagte beispielsweise der tschechische Außenminister Jan Lipavsky, sein Land wolle ein „klares und direktes Signal“ an die russische Gesellschaft. Tschechien hatte als erstes Land bereits im Februar einen Visastopp für Russen verhängt.
Außenminister diskutieren in Prag
Es deutet allerdings wenig darauf hin, dass auch EU-Schwergewichte wie Deutschland, Frankreich, Spanien oder Italien dabei mitmachen, auf diese Weise Sanktionen gegen die russische Bevölkerung zu verhängen. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte zuletzt bei einem Treffen mit anderen Regierungschefs in Oslo wiederholt, was man schon früher von ihm gehört hatte. „Das ist nicht der Krieg des russischen Volkes, das ist Putins Krieg. Da müssen wir sehr klar sein“, antwortete er auf eine entsprechende Frage bei der Pressekonferenz. „Gewöhnliche Russen haben den Krieg nicht begonnen, aber wir müssen erkennen, dass sie den Krieg unterstützen“, wandte die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin ein.
Das Thema steht bei einem EU-Außenministertreffen Ende August in Prag auf der Tagesordnung. Danach könnten Entscheidungen fallen.
Estland weist Russen ab
In Estland hat man schon mal eigene getroffen. Seit dem 18. August wird Russen die Einreise verweigert, wenn deren Schengen-Visum von einem estnischen Konsulat erteilt wurde. Finnland wiederum hat mitgeteilt, ab September die Annahme von Visaanträgen aus Russland auf die Hälfte der bisherigen Zahl pro Tag zu begrenzen und bei der Bearbeitung nicht-touristischen Reisezwecken den Vorzug zu geben.
Der Verband der Russischen Reiseveranstalter (ATOR) erklärte dazu, eine Verbesserung der Situation sei kaum zu erwarten. In den Schengen-Raum reisten derzeit aber ohnehin nur fünf Prozent aller russischen Touristen.
Tino Künzel