Die Schilder auf der neuen Baustelle im Südwesten Moskaus wirken irgendwie aus der Zeit gefallen, denn ihr Stil erinnert an einstige Propagandaplakate der Sowjetunion. Zu sehen sind ein Kleinkind, eine Mutter, eine Großmutter, einen Arzt, einen entschlossen dreinblickenden Bauarbeiter – und Moskaus Bürgermeister, Sergej Sobjanin.
Die Poster sollen zur Arbeit motivieren und bewerben, was hier entsteht. Ähnlich wie es China in Wuhan, dem Zentrum der Corona-Epidemie, vorgemacht hat, will auch Russland ein neues Infektionskrankenhaus in Windeseile aus der Erde stampfen. Die Eröffnung des Neubaus, für den die Stadt Moskau 8,5 Milliarden Rubel (rund 100 Millionen Euro) einkalkuliert, wurde für Anfang April verkündet und soll nun kurz bevorstehen.
Die ruhigen Zeiten liegen hinter Russland
Als das Coronavirus die chinesischen Landesgrenzen überwunden hatte, setzte die russische Regierung vor allem auf Abschottung: Nach und nach wurden Flüge gestrichen, Quarantäneauflagen für Neuankömmlinge ausgesprochen und schließlich Einreisesperren verhängt. Was der Staat relativ lange ohne Einschränkungen weiterlaufen ließ, war das öffentliche Leben. Bis vor Kurzem wollte man noch am Apriltermin des inzwischen verschobenen Referendums festhalten, mit dessen Hilfe Wladimir Putin bis ins Jahr 2036 weiterregieren könnte. Mitte März sprach der Präsident bei einer Kabinettssitzung noch davon, die Situation „im Großen und Ganzen unter Kontrolle“ zu haben.
Die von seiner Regierung herausgegebenen Zahlen gaben dem Kremlchef recht. Lediglich 114 Fälle waren zu diesem Zeitpunkt in Russland registriert worden. Mittlerweile befindet sich das Land jenseits der 6.000 und Hunderte von Neuinfektionen kommen jeden Tag hinzu. Dass die geringen Fallzahlen nicht bleiben würde, war im Grunde klar. Ihre allgemeine Zuverlässigkeit wurde jedoch von Beginn an infrage gestellt. Auf der Straße, in den Medien und sogar in der Duma wurden Zweifel laut. Das mag nicht zuletzt an dem hektischen Bau des Moskauer Krankenhauses gelegen haben, der aus dem Bild eines immunen Russlands herausfiel.
Die unbekannte Stärke des Gegners
Tatsächlich gelten die Tests in den staatlichen Kliniken Russlands als unzuverlässig. Zu ihrer hohen Fehleranfälligkeit gesellte sich eine nicht flächendeckende Durchführung sowie nachlässige Zuordnungen in der Statistik. So vermuten Mediziner, dass einige Corona-Tote als schlichte Lungenpatienten registriert wurden. Nach wie vor kann niemand wissen, welches Ausmaß die Corona-Epidemie in Russland noch annehmen wird. Offen ist dementsprechend auch, ob sein Gesundheitssystem der Herausforderung gewachsen sein wird.
Dieses lag zu Zeiten der Sowjetunion vollkommen in den Händen des Staats, der die medizinische Versorgung seiner Bürger von vorne bis hinten selbst bestimmte und regulierte. Nach dem Zerfall der UdSSR brach für das russische Gesundheitswesen eine neue Zeit an. Im Verlauf der 1990er Jahre wurde es zu einem zweigliedrigen System reformiert, in dem es sowohl eine obligatorische als auch eine freiwillige Krankenversicherung gab. Während sich die eine aus Steuergeldern finanzierte, musste die andere aus eigener Tasche oder der des Arbeitgebers bezahlt werden.
Früher Realsozialismus, heute „Optimierung“
Hiermit lag die uneingeschränkte Entscheidungsgewalt nicht mehr beim Staat. Doch das neue System zementierte die soziale Ungleichheit im Land. Es ist eine Minderheit, die sich damals wie heute eine freiwillige Versicherung leisten kann. Mit der Ära Putin kam schließlich das Prinzip der „Optimierung“ zum Tragen, bei der noch stärker nach wirtschaftlichen Faktoren entschieden wurde als zuvor. Kleinere Kliniken auf dem Land wurden aufgelöst und ihre Funktionen auf größere Regionalkrankenhäuser übertragen.
Laut Gewerkschaftsangaben sollen in einigen Regionen während der letzten Jahre rund die Hälfte der Infektionsbetten abgeschafft worden sein. Hinzu kommen personelle Probleme: Abseits der Großstädte verdienen öffentliche Ärztinnen und Ärzte gerade einmal so viel wie in der Taxibranche. Viele von ihnen fordern eine informelle, direkte Bezahlung, um sich selbst über Wasser halten zu können oder eröffnen teure, private Kliniken.
Der Ruf ist nicht der beste
Russische Krankenhäuser gelten als chronisch unterbesetzt und dem Personal, das vorhanden ist, soll es an Know-how fehlen. Tatsächlich mangelt es hier und da am Material: Um die Abhängigkeit von Importgütern zu verringern, erließ die russische Regierung im Jahr 2014 ein Gesetz, das die Nutzung ausländischen Equipments in den Krankenhäusern einschränkte.
Auch deshalb findet sich die beste Behandlungslösung nicht selten außerhalb der Landesgrenzen. In den russischen Kliniken stehen insgesamt rund 40 000 Beatmungsgeräte zur Verfügung. Nichtsdestotrotz bezweifeln zahlreiche Experten, dass man einer massiven Corona-Epidemie gewachsen wäre, wie sie derzeit Teile Europas erleben. Der politische Wille ist da. Doch es erscheint unrealistisch, dass sich die strukturellen Probleme des Gesundheitssystems so kurzfristig überwinden lassen.
Patrick Volknant