Die Anatomie des russischen Sparschweins

Für Krisen wie diese ist er geschaffen worden: In Zeiten niedriger Erdölpreise soll der russische Reservefonds das Land über Wasser halten. Jetzt ist er schon zu mehr als der Hälfte aufgebraucht. Wie lange kann das noch gut gehen?

Finanzminister Siluanow und die Frau mit den klaren Worten: Tatjana Nesterenko / RIA Novosti

Finanzminister Siluanow und die Frau mit den klaren Worten: Tatjana Nesterenko / RIA Novosti

Schon seit Wochen präsentiert der russische Finanzminister Anton Siluanow wenig erfreuliche Zahlen zum Staatshaushalt. Seine Botschaft: Der Sparkurs muss beibehalten, beschlossene Privatisierungen umgesetzt werden. Doch erst seiner Stellvertreterin Tatjana Nesterenko gelang es Ende Juli, die Öffentlichkeit aufzurütteln: In anderthalb Jahren ist der Staat pleite und kann keine Löhne mehr auszahlen, wenn nicht umgehend etwas unternommen werde. Nesterenko gab dabei offen zu, was zuvor nur inoffiziell aus ihrem Ministerium nach außen drang: Der Staat nimmt weniger ein als er ausgibt, die Lücke wird aus dem Reservefonds beglichen, und der ist Ende 2017 ausgeschöpft.

Der Fonds wurde 2008 eingerichtet, damit Russland in Perioden niedriger Erdölpreise über die Runden kommt. Nach dem Erdölpreis und dem Rubelkurs ist seine Lebenserwartung eine der meistdiskutierten wirtschaftlichen Fragen in Russland. So meldete sich wenige Tage nach Nesterenkos Weckruf die angesehene Moskauer Higher School of Economics zu Wort und sagte das Ableben des Fonds bereits für das laufende Jahr voraus, weil der niedrige Erdölpreis, selbst wenn er nicht weiter fallen sollte, bis Jahresende eine riesige Lücke in den Staatshaushalt reißen werde.

Solche Hiobsbotschaften der überwiegend liberalen Wirtschaftsinstitute gab es seit Beginn der aktuellen Krise im Jahr 2014 immer wieder. Das patriotische Gegenlager wischt die Warnungen gerne mit dem Hinweis beiseite, dass der Fonds noch immer beträchtliche Mittel aufweist – zu Recht, wenn man seinen Umfang nur in Rubel angibt. Das ist sicherlich gerechtfertigt, da der Fonds zur Deckung von Staatsausgaben verwendet wird, die in Rubel zu leisten sind. Doch strukturell setzt er sich aus Mitteln in US-Dollar, Euro und Pfund Sterling zusammen. Dadurch erklären sich die starken Schwankungen des Fonds, die in den vergangenen Jahren zu beobachten waren: Stürzt der Rubelkurs ein, wertet der Reservefonds in Rubel gerechnet auf.

Real zugenommen hat der Fonds das letzte Mal im August 2014. Die ausführliche Statistik des russischen Finanzministeriums gibt seine Struktur damals wie folgt an: 40,82 Milliarden US-Dollar, 31,39 Milliarden Euro und 5,76 Milliarden britische Pfund. Zusammengenommen entsprach das 3,39 Billionen Rubel. Seitdem sind die Mittel Monat für Monat entweder konstant geblieben oder geschmolzen, wobei der Schwund Mitte 2015 deutlich an Fahrt gewann. Anfang Juli 2016 waren noch 17,42 Milliarden US-Dollar, 15,61 Milliarden Euro und 2,62 Milliarden britische Pfund übrig. Während also innerhalb von zwei Jahren mehr als die Hälfte des Fonds aufgebraucht wurde, gibt er in Rubel gerechnet eine bessere Figur ab: So gesehen ist der Fonds noch immer etwa 73 Prozent des damaligen Umfangs wert (2,46 Billionen Rubel).
Nesterenkos Prognose erscheint angesichts dieses langfristigen Trends realistisch. Sind die Mittel des Fonds ausgeschöpft, muss die Regierung ihr zweites Sparschwein schlachten, den Fonds des nationalen Wohlstands. Der war ursprünglich angelegt worden, um späteren Rentnergenerationen einen würdigen Lebensabend zu ermöglichen. Er ist ungefähr doppelt so groß wie der Reservefonds, wird allerdings angesichts der Rezession für staatliche Investitionen und Finanzspritzen für das Bankensystem in Anspruch genommen, so dass große Teile des Wohlstandsfonds bereits gebunden sind.

Woher soll das fehlende Geld kommen? Nesterenko bezeichnet den Staatshaushalt als „die größte innere Herausforderung“. Präsident Wladimir Putin dürfte die Vorstellung nicht gefallen, ausgerechnet im Jahr der Präsidentenwahl 2018 Millionen von Staatsdienern, seinen treuesten Wählern, keinen Lohn zahlen zu können. Doch auch die übrige Bevölkerung könnte die Geduld verlieren, wenn der Staat wie angekündigt seine Ausgaben in den kommenden Jahren noch weiter zusammenstreicht. Hier sei das Sparpotenzial schon jetzt ausgereizt, warnte etwa die Vorsitzende des russischen Rechnungshofs Tatjana Golikowa, die unter Präsident Medwedew Sozialministerin war.

So bleibt dem Staat das übliche Allheilmittel: Der Rubel dürfte noch weiter abwerten, um die Rohstoffeinnahmen zu stabilisieren und die Lebensdauer der Reserven zu verlängern. Und letztlich wird Russland dazu gezwungen sein, seine bisher niedrige Staatsverschuldung zu erhöhen und auch auf den internationalen Geldmärkten um Kredite zu werben. Doch diese dürften das Land kaum mit offenen Armen empfangen, wenn es nach dem Aufbrauchen des Reservefonds mit leeren Hosentaschen kommt. Natürlich setzt man auch auf Wirtschaftswachstum: Konkrete Vorschläge für Reformen, die es wieder in Gang bringen sollen, hat der Kreml erst für Mitte 2017 bestellt.

Bojan Krstulovic

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