„Wir kommen an Russland nicht vorbei“

Der Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der deutschen Wirtschaft schlägt eine neue Agenda für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland vor. Auch die angespannten Beziehungen zwischen der EU und Moskau sollen davon profitieren. Doch die Kooperation ist an Bedingungen geknüpft. Geschäftsführer Michael Harms sprach mit der MDZ über den Vorstoß der Unternehmer.

Große Chancen für Wirtschaft und Politik: Michael Harms setzt auf den Handel mit Russland. /Foto: OAOEV/ C.Kruppa

Ihr Aufruf bezeichnet die vergangenen Jahre als „verlorenes Jahrzehnt“ für die EU-Russland Beziehungen. Warum?

Die politischen Beziehungen zwischen der EU und Russland kriseln leider schon sehr lange. Spätestens mit Wladimir Putins Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 wurde das offensichtlich. Die Ukrainekrise hat den Prozess der Entfremdung dann noch beschleunigt, weil viele Gesprächsformate zwischen der EU, Deutschland und Russland eingefroren wurden. Eine Reihe von Chancen, den Prozess umzukehren, wurden leider verpasst. Ich denke zum Beispiel an die Abschaffung der gegenseitigen Visa-Regelungen. Wir standen kurz davor, dieses Thema umzusetzen. Wenn wir das gemacht hätten, hätte das viel zum gegenseitigen Verständnis beigetragen. Da waren wir im Westen auch nicht mutig genug.

Der Ost-Ausschuss schlägt nun eine „Neue Agenda“ mit Russland vor. Welche Idee steht dahinter?

Der Gedanke war, dass wir in der politischen und öffentlichen Diskussion Russland immer nur als Problem wahrnehmen. Wenn Russland auftaucht, wird über Sanktionen, Spannungen, Krise oder Energieabhängigkeit gesprochen. Wir wollten die Perspektive einfach mal umdrehen. Bei allen großen internationalen Problemen wie nachhaltiger Rohstoffversorgung, Klimapolitik, Ernährungssicherheit, Terrorismusbekämpfung oder Digitalisierung kommen wir an Russland nicht vorbei! Jenseits der Sanktionsthematik haben wir sehr viele Bereiche, die sich hervorragend entwickeln und in denen Russland eine konstruktive Rolle spielt. Stichwort Industrie und Forschung. Da sehen wir auch für die kommenden Jahre große Chancen. Das ist viel zu wenig in unserer öffentlichen und politischen Debatte dargestellt! Und deshalb haben wir das alles mal konzentriert zusammengetragen.

Konkret benennen Sie 15 Felder einer vertieften Kooperation, vom Thema Mittelstand bis zur Zusammenarbeit im Kosmos. Welche Bereiche sind besonders erfolgversprechend?

Eigentlich kann man da alle 15 Felder nehmen. Stellvertretend benenne ich einmal drei Bereiche. Da ist das große Thema Effizienzpartnerschaft. Die russische Regierung hat sich das Ziel gesetzt, die Arbeitsproduktivität in der Industrie entscheidend zu erhöhen. Das ist auch ein Leib-und-Magen-Thema der deutschen Industrie, vor allem des Mittelstandes. Da sehen wir in vielen Bereichen Chancen für eine hervorragende Zusammenarbeit. Das zweite Thema wäre Digitalisierung, wo Russland uns in vielen Bereichen voraus ist. Russland ist viel stärker in der Programmierung und in der Entwicklung von Anwendungen für den Endkunden (B2C), Deutschland hat viel Know-how in der industriellen Anwendung (B2B). Hier könnten wir Synergien erzielen. Das dritte Thema ist der relativ ausführlich beschriebene Bereich Wissenschaft und Forschung. Sowohl in der Grundlagenforschung, in der universitären Zusammenarbeit und in der industrienahen Forschung können wir sehr positive Effekte für die Wirtschaft erzielen. Viele wissen gar nicht, dass Russland bei vielen europäischen Großforschungsvorhaben ein wichtiger Partner und Finanzier ist. Was wir zusammen erreichen können, hat ja zuletzt die Weltraummission von Alexander Gerst wieder eindrucksvoll gezeigt.

Sie erhoffen sich von der Zusammenarbeit auch eine Entspannung in der Politik. Wie das?

Man darf da nicht naiv sein. Da gibt es natürlich keinen monokausalen Zusammenhang. Aber wir glauben, dass durch die vielfältigen Bereiche der Zusammenarbeit in der Wirtschaft das Vertrauen insgesamt gestärkt und auf eine wesentlich breitere Basis gestellt wird. Und dass das dann positive Rückkoppelungseffekte auf die Politik hat. Vielleicht mal ein konkretes Beispiel: Wir haben auch ein starkes Plädoyer für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion im Papier. Wenn wir verstärkt mit der Eurasischen Wirtschaftskommission über gemeinsame Normen und Standards reden, gewinnen dadurch auch neue Zugänge in die russische Politik. Dieser Dialog hilft uns allen. Die Wirtschaft in ganz Europa einschließlich Eurasien würde stark von den Effekten eines Freihandelsabkommens oder eines großen gemeinschaftlichen Wirtschaftsraumes profitieren.

Sie schlagen auch kritische Töne an, fordern die Einhaltung von Recht und Gesetz als Bedingung für die Wirtschaft. Ziemlich ungewöhnlich für einen Wirtschaftsausschuss.

Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass wir die kritischen Themen deutlich ansprechen. Das müssen wir auch, alles andere wäre naiv. Wandel durch Handel ist eine Sache, aber man braucht auch eine klare Ansprache dessen, was nicht so gut läuft. Und ich glaube schon, dass wir benennen müssen, dass es ohne einen Durchbruch bei Minsk-2 (Anm.d.Red: Maßnahmenpaket für eine Lösung des Konflikts in der Ostukraine) kaum möglich werden wird, Sanktionen abzubauen. Da muss Russland mehr für eine Entspannung tun. Beispielsweise halten wir die Freilassung der bei Kertsch inhaftierten 24 ukrainischen Soldaten für dringend erforderlich. Neben der Ukraine gibt es weitere Themen, wie Syrien, die Cyberangriffe, die Spionagegeschichten oder der INF-Vertrag, wo sich Russland kooperativer zeigen kann. Es bringt aber umgekehrt auch nichts, wenn wir die Verantwortung einseitig auf Russland schieben. Da müssen sich schon beide Seiten bewegen und Kompromisse ermöglichen. Wir sind nicht die Politik. Aber die Verstärkung der Zusammenarbeit in den von uns benannten wirtschaftlichen Feldern könnte eine Grundlage für den Aufbau von Vertrauen und einen neuen Verständigungsprozess sein.

Das Gespräch führte Birger Schütz

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