Weniger Menschen, mehr Quadratmeter

Wie die von Wladimir Putin definierten Entwicklungsziele erreicht werden können.

Mai-Dekrete
Nach den „Mai-Dekreten“ werden Neubauten bestimmt noch schneller errichtet werden. (Foto: AGN Moskwa)

Es ist bereits Tradition: Wenn Wladimir Putin wieder einmal das höchste Amt im Staat bekleidet, unterzeichnet er die sogenannten „Mai-Dekrete“. Dies war der Fall nach den Wahlen 2012 und nach den Wahlen 2018. Die Unterzeichnung findet am selben Tag, dem 7. Mai, statt. So war es auch dieses Mal. Das unterzeichnete Dekret definiert die Entwicklungsziele des Landes bis 2030 und einige Pläne, die bis 2036 umgesetzt werden sollen. Jedem ist klar, wie wichtig dies ist: Die zuständigen Ministerien und andere Strukturen werden entsprechende Programme für die im Dekret aufgeführten Ziele entwickeln, und für die Umsetzung dieser Programme wird Geld aus dem Haushalt bereitgestellt. Und das ist eine Menge Geld.

Große Pläne

Bereits heute wird reichlich in die Bauindustrie investiert, aber angesichts der in den „Mai-Dekreten“ vorgestellten Pläne ist zu erwarten, dass noch mehr Geld in diese Richtung fließen wird. Die Ziele sind hoch gesteckt: Bis 2030 sollen den Russen Wohnungen mit einer Gesamtfläche von mindestens 33 Quadratmetern pro Person und bis 2036 von mindestens 38 Quadratmetern zur Verfügung stehen. Im Jahr 2022 waren es nach Angaben der Statistikbehörde „Rosstat“ 28,2 Quadratmeter pro Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland betrug die entsprechende Zahl laut Statista zur gleichen Zeit 47,4 Quadratmeter.

Aber es geht nicht nur um absolute Zahlen. Allein die Tatsache, dass die Behörden die Wohnverhältnisse der Russen verbessern wollen – oder dies praktisch versprechen –, lenkt die Aufmerksamkeit auf eben dieses Entwicklungsziel. Die Geschichte der Sowjetunion und des neuen Russlands bietet sowohl Beispiele für erfolgreiche Programme in diesem Bereich als auch für Projekte, die die Erwartungen nicht erfüllen konnten. Die „Chruschtschowkas“ – fünfstöckige Plattenbauten – waren Mitte der 60er Jahre ein großer Schritt nach vorn. Das Programm „Wohnungsbau-2000“, dessen Ziel es war, jeder sowjetischen Familie bis zum Jahr 2000 eine eigene Wohnung oder ein eigenes Haus zur Verfügung zu stellen, wurde jedoch nie umgesetzt. Das Projekt entstand 1986, wurde aber mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder eingestellt. Ein neueres Beispiel ist das Renovierungsprogramm in Moskau. Einerseits verbessert es die Wohnverhältnisse der Moskauer, andererseits gibt es auch jede Menge unzufriedene Betroffene.

Es geht nach unten

Die Behörden müssen bei der Festlegung der hohen Ziele alles bedacht haben, und das Ziel ist wohl erreichbar. Aber wie? Diese Frage wird in der Fachwelt rege diskutiert. Nach Ansicht von Olga Troschewa, Geschäftsführerin des Beratungszentrums Real Estate in St. Petersburg, wird der Wohnungsbestand in Russland nicht im Geringsten durch die Bevölkerungsdynamik beeinflusst. „Und hier zeigt Russland immer noch einen negativen Trend – das ist die Prognose bis 2030“, fügt die Expertin im Gespräch mit Forbes hinzu. Laut der durchschnittlichen Prognose von Rosstat wird die Bevölkerung Russlands von 146 Millionen im Jahr 2024 auf 143,2 Millionen im Jahr 2030 schrumpfen. Pessimistischen Schätzungen zufolge  werden im Jahr 2030 nur noch 142 Millionen Russen übrig bleiben.

Was aber, wenn das andere in den „Mai-Dekreten“ genannte Ziel erreicht wird und die Geburtenrate in Russland bis 2030 auf 1,6 und bis 2036 auf 1,8 steigt? Was, wenn die Aufrufe zur Gründung großer Familien befolgt werden und die ältere Generation es nicht eilig hat, Platz für die Enkelkinder zu machen, weil die „Mai-Dekrete“ einen Anstieg der Lebenserwartung auf 78 Jahre bis 2030 und 81 Jahre bis 2036 vorsehen?

180 Quadratmeter statt eines winzigen Studios

Wenn man von einer Familie mit drei oder mehr Kindern ausgeht, muss man Wohnungen mit einer Fläche von 150 bis 180 Quadratmetern bauen, um die in den neuen Verordnungen festgelegten Parameter zu erfüllen. Ilja Ponomarjow, Experte des dem Bauministerium unterstellten Öffentlichen Rates, bezeichnet diesen Ansatz jedoch als „ineffizient“ und weist darauf hin, dass „die Preise für solche Wohnungen in Großstädten eindeutig nicht erschwinglich sein werden“. In einem Interview mit der „Rossijskaja Gaseta“ sagte er, dass zur Lösung des Problems eine völlige Änderung der Entwicklungsansätze erforderlich sei. Dem kann man schwerlich widersprechen.

Seit vielen Jahren hält der Trend zum Bau kleinerer Wohnungen in Großstädten an. So machen Studios mit einer durchschnittlichen Fläche von 25 Quadratmetern etwa ein Fünftel des Wohnungsmarktes in Moskau aus. Jekaterina Lewina, Top-Maklerin bei Whitewill, teilte diese Statistik mit „RBK“. Mitte Mai kündigten die Moskauer Behörden an, dass sie keine Genehmigungen für den Bau von Häusern mit Wohnungen von weniger als 28 Quadratmetern erteilen würden. Aber auch diese Grenzen erreichen nicht die Norm von 33 Quadratmetern pro Person. Und: Was soll man mit der riesigen Zahl von noch recht neuen Häusern anfangen, in denen es Studios von 17 bis 18 Quadratmetern gibt? Es besteht die Gefahr, dass die großen Pläne nicht umgesetzt werden, wie es bei den „Mai-Dekreten“ 2018 der Fall war.

Igor Beresin

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: