Vor zehn Jahren: Als eine Wahl in Russland Spannung verhieß

Auch vor zehn Jahren stand Alexej Nawalny schon vor Gericht. Während er heute allerdings eine neunjährige Haftstrafe verbüßt und gerade zu weiteren 19 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, durfte der Oppositionelle damals immerhin bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen 2013 gegen Amtsinhaber Sergej Sobjanin antreten und holte letztlich beachtliche 27 Prozent der Stimmen. So berichtete seinerzeit die Presse über den Wahlkampf.

Alexej Nawalny im August 2013 vor Anwohnern in einem Moskauer Viertel (Foto: Tino Künzel)

„Tolle Lehrstunde“

Moskowski Komsomolez, 23. August 2013

Klar, bei den Wahlen in Moskau wird der Kandidat der Machtpartei gewinnen. Aber so einen spannenden Kampf hat es nach meiner Erinnerung in Russland schon viele Jahre nicht mehr gegeben. Und das ist eine tolle Lehrstunde sowohl für die Mächtigen als auch die Opposition und, was das Wichtigste ist, wohl auch für die Wähler.

Wie laufen Wahlen bei uns für gewöhnlich ab? Der Kandidat der Machtpartei lässt sich gnädig dazu herab, mit den Wählern zu reden. Er weiß, dass er den Sieg ohnehin in der Tasche hat. Aber Wahlen sind Wahlen. Es muss der Anschein erweckt werden, dass der Erfolg in zähem und hartem Kampf errungen wurde. Also folgt eine formale und inhaltsleere Veranstaltung der nächsten.

Bei den Moskauer Wahlen 2013 kann sich Sergej Sobjanin nicht zurücklehnen. Alexej Nawalny, das muss man ihm lassen, gibt sich nicht mit Schattenboxen ab. Er schlägt richtig zu – und zwar dort, wo es weh tut. De facto hat er die Bürgermeisterwahl zu einer Vertrauensfrage für die gesamte zentrale Macht und Präsident Putin persönlich gemacht.

„Technokrat gegen Kremlkritiker“

AFP Deutschland, 6. September 2013

Moskau macht sich hübsch, seit Monaten schon. Denn es ist Wahlzeit. Bürgermeister Sergej Sobjanin will sein Amt verteidigen und hat Großputz verordnet. … Allen Umfragen zufolge kann Sobjanin mit einer Mehrheit schon im ersten Wahlgang rechnen. Der Technokrat hat sich bei den Moskowitern in den drei Jahren seiner Amtszeit beliebt gemacht, indem er der Stadt ein Facelifting verpasste. Mit Fußgängerzonen und einem Leihfahrradsystem. Den heruntergekommenen Gorki-Park hat er neu belebt.

Aber da ist auch noch der prominente Kremlkritiker Alexej Nawalny, der einzige unter den anderen fünf Kandidaten, der Sobjanin gefährlich werden könnte. Im Juli wurde er wegen Unterschlagung zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt – in einem auch international kritisierten Prozess. Seitdem sind seine Umfragewerte sprunghaft gestiegen. Einen fairen Wahlkampf konnte Nawalny nach eigenen Angaben nicht führen.

„Gestählter Kämpfer“

Expert, 16. August 2013

Heute bestreitet niemand mehr, dass der in Straßenprotesten und im Knast gestählte Anti-Korruptions-Kämpfer Alexej Nawalny das Format eines Politikers hat. Die Medien verfolgen seine Rhetorik aufmerksam, was zweifellos auch für andere Politiker und Polittechnologen gilt.

„Ganz neue Bilder“

Moskauer Deutsche Zeitung, 3. August 2013

Alexej Nawalny: blaue Jeans, hellblaues Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, ein Mikrofon in der Hand. Vor ihm: Großmütter, Mütter mit Kindern, junge Frauen und Männer, Senioren, auf Klappstühlen. Sie fragen, er antwortet. Das war Ende Juli irgendwo in Moskau vor rund 50 Menschen. Ganz neue Bilder. Stand der 37-Jährige vor Monaten noch vor Tausenden auf dem Bolotnaja-Platz als Star der Straßenopposition und war er danach im Gericht der Stadt Kirow verurteilt worden, so ist er nun da angekommen, wo er es selbst wohl am wenigsten erwartet hätte: in der heißen Phase des Wahlkampfes um das Moskauer Bürgermeisteramt.

Und das bedeutet Klinkenputzen beim Durchschnittsmoskauer. So wie bei der Veranstaltung an jenem Freitag im Juli vor Jungen wie Alten, die sitzend auf ihren Klappstühlen im Zweifel noch nie etwas von ihm gehört haben, auch wenn er im Moment als der bekannteste Oppositionelle Russlands gilt. „Hofgespräche“ wie diese soll es noch etwa 150 Mal in Moskaus Bezirken geben, kündigte Nawalnys Stab an.

„Hunger auf Diskurs“

Gazeta.ru, 5. August 2013

Sämtliche Aufmerksamkeit der Medien bei der Berichterstattung über den Wahlkampf konzentriert sich auf den amtierenden Bürgermeister Sergej Sobjanin und den Oppositionellen Alexej Nawalny, andere Kandidaten werden praktisch gar nicht wahrgenommen. Das geht aus einer Studie des Branchendienstes Medialogia im Auftrag von Gazeta.ru hervor. … Der wichtigste Schluss, den man aus der Statistik ziehen kann, ist der: Journalisten, deren Arbeit keiner so rigiden Kontrolle unterzogen ist wie bei staatlichen Medien, sind hungrig auf einen gesellschaftlichen Diskurs, glaubt der Medienexperte Wassili Gatow. … „Die Journalisten haben sich in Nawalny verliebt, da er sich als Alternative zu Putin präsentiert …“, meint (der oppositionelle Politologe Stanislaw) Belkowski.

„Leidenschaftlicher Straßenwahlkampf“

Stern, 8. September 2013

Es ist vor allem zum ersten Mal auch echte Konkurrenz zugelassen, mit dem erst 37-jährigen Nawalny. Der Anwalt und Blogger ist dem Kreml ein Dorn im Auge, weil er Putins System immer wieder als korrupt, hintertrieben und voller Willkür brandmarkt. Putin schien noch kurz vor der Wahl die Strafverfahren gegen Nawalny zu verteidigen: Wo „dieser Mann“ aufkreuze, gebe es Ärger, meinte der Kremlchef. Und bei seiner Stimmabgabe sprach er Nawalny indirekt, aber deutlich die Eignung ab. „Großstädte benötigen keinen Politiker, sondern einen Menschen, der zu arbeiten versteht“, sagte Putin in die Mikrofone.

Doch der wortgewandte Charismatiker Nawalny, der mit seiner Frau Julia und den Kindern noch dazu eine Vorzeigefamilie abgibt, nimmt solchen Schimpf von Putin als Bestätigung, dass er richtig handelt. „Geht wählen – ändern wir Russland, fangen wir in Moskau an“, schrieb er am Sonntag in einem Blog. Dass sich der vor allem bei jungen Menschen beliebte Populist erstmals einer Wahl stellt, gilt auch als Krönung seiner Führungsrolle in der immer noch heillos zerstrittenen Opposition. Nawalny hat wie kein anderer der insgesamt sechs Moskauer Kandidaten einen leidenschaftlichen Straßenwahlkampf geführt.

Aber es war aus Sicht vieler Beobachter auch ein aussichtsloses Gefecht gegen die mächtigen Mühlenflügel des Kreml: Der 55 Jahre alte Amtsinhaber Sobjanin genießt den Rückhalt Putins, die uneingeschränkte Zuwendung der Staatsmedien – und den für viele Russen tadellosen Ruf eines disziplinierten Apparatschiks, der den Moloch Moskau am ehesten in eine gute Zukunft steuern kann.

Über Ausgang und Bewertung der Bürgermeisterwahl berichtete die MDZ damals so.

Tino Künzel

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Am 4. August 2023 wurde Alexej Nawalny vom Moskauer Stadtgericht zu weiteren 19 Jahren Gefängnis in einer Sonderhaftanstalt verurteilt, wo normalerweise Schwerverbrecher und Wiederholungstäter einsitzen. Angeklagt war der 47-Jährige nach sechs Artikeln des russischen Strafgesetzbuchs, vor allem wegen Gründung einer „extremistischen Organisation“. Gemeint ist die Anti-Korruptions-Stiftung FBK (in Russland als extremistisch eingestuft, verboten und aufgelöst). Nawalny verbüßt bereits eine Haftstrafe von neun Jahren. Ihm waren Betrug und Beleidigung vorgeworfen worden. Der jetzige Prozess fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit in der Kleinstadt Melechowo (Region Wladimir) statt, wo sich Nawalnys Lager befindet. Die angereisten Journalisten hatten keinen Zutritt zum Gerichtssaal. Sie konnten die Urteilsverkündung nur auf Bildschirmen in einem Nebenraum verfolgen.

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