Vergessen am Dnjestr

Leben in einem Staat, der keiner ist: Fast anderthalbtausend Deutschstämmige gibt es noch in Transnistrien. Die MDZ hat die Nachfahren süddeutscher Siedler in der kleinen Separatistenrepublik zwischen Moldau und der Ukraine besucht.

Sie bewahrt die Traditionen ihrer Vorfahren: Baba Lida aus Transnistrien betet auf Deutsch und spricht schwäbischen Dialekt. (Foto: Othmara Glas)

Es ist noch früh an diesem Herbstmorgen, als das Taxi mit den Touristen über die alte Straße nach Glinoje rumpelt. Links und rechts ziehen Felder mit fruchtbarer Schwarzerde vorbei, die Sonne taucht die Landschaft in ein rot-gelbes Farbenspiel. Am Straßenrand ist der Wagen eines ehemaligen deutschen Bäckereibetriebs geparkt, auf dem der Schriftzug „Guten Tag“ prangt. Nur etwas später die nächsten deutschen Spuren: Das Taxi passiert den Ortseingang von Glinoje und hält vor der Dorfschule. Im Keller wartet ein kleines Museum voll mit Alltagsgegenständen, Kleidung, alten Karten, Dokumenten und der Schulchronik in deutscher Sprache. Das ist kein Zufall: Glinoje hieß lange Zeit Glückstal und war bis in die 1940er Jahre eines von zahlreichen Dörfern der sogenannten Transnistriendeutschen. Einst lebten Zehntausende in dem schmalen Landstrich am Ostufer des Dnjes­tr, der sich 1992 nach einem kurzen militärischen Konflikt von der Republik Moldau abspaltete. Heute gibt es nur noch wenige Deutschstämmige. Etwa 1400 waren es laut Zensus 2015. „Deutsche Kolonisten ließen sich ab 1808 in Transnistrien nieder“, erläutert Reiseunternehmer Andrej Smolenskij, der den Besuch im Rahmen seiner Tour „Auf den Spuren der deutschen Ansiedler“ organisiert hat. Die Siedler seien aus Baden, Württemberg, der Pfalz, dem Elsass und Ungarn gekommen, erklärt der Mittdreißiger mit dem Dreitagebart in fließendem Deutsch. Zar Alexander I. hatte sie eingeladen, sich in den Gebieten am Schwarzen Meer niederzulassen, welche er während der Türkenkriege erobert hatte. Die Dörfer entwickelten sich gut. Das geht auch aus einer Wandtafel im Museum hervor, die über die ehemaligen Bewohner Glückstals und ihre Höfe informiert. Waren 1809 gerade einmal 618 Einwohner registriert, waren es 1890 schon mehr als 3300 – alles Deutsche. Doch das ist lange Geschichte. Heute sind die meisten der etwa 1000 Einwohner Ukrainer, Russen und Moldauer.

Spezialisiert auf deutsche Touristen: Reiseunternehmer Andrej Smolenskij organisiert Touren durch deutsche Dörfer in Transnistrien. /Foto: Othmara Glas

Schwindende Spuren

Die Schuldirektorin und Leiterin des Museums, Ljubov Kalina, versucht, so viel wie möglich über das Leben der Transnistriendeutschen zusammenzutragen. Für die Historikerin ist es zu einer Lebensaufgabe geworden. Bald will sie das Museum ausbauen und aus dem Keller herausholen. Stolz zeigt sie einen Gedenkstein für die Kolonisten – gesponsert aus den USA. „1871 wurden die Sonderrechte für deutsche Siedler aufgehoben“, erläutert Kalina. „Dann hätten sie auch Wehrdienst leisten müssen.“ Das wollten die meist religiösen Siedler aber nicht. Viele verließen das Zarenreich da­raufhin in Richtung Amerika. Aus Glückstal gingen die meisten in die US-Bundesstaaten North Dakota und Kansas. Zum größten Einschnitt in das deutsche Leben kam es jedoch Ende der 1930er Jahre, als auch in Transnistrien die Deportationen nach Sibirien und Kasachstan begannen. In Glinoje erinnert heute nur noch wenig an das frühere deutsche Erbe. Die Kirche wurde zu Zeiten der Sowjetunion in ein Kulturhaus umfunktioniert. Smolenskiy zeigt den Besuchern noch ein Haus, „das vor 200 Jahren nach deutschen Technologien gebaut wurde“. Deswegen sei es besonders stabil und stehe immer noch. Das Bemerkenswerteste an dem Gebäude ist allerdings das Dach. Es hat rot, gelb und grün glasierte Ziegel – eine Besonderheit in der Gegend. Nach einer kurzen Autofahrt erscheint das Ortschild von Karmanowa. Früher hieß der Ort einmal ganz schlicht „Neudorf“. Im Tourprogramm steht: Gespräch im schwäbischen Dialekt mit einer Dorfbewohnerin. Gemeint ist Baba Lida. Freudig begrüßt sie die Besucher aus Deutschland und lädt sie in ihr Haus ein. Doch Smolenskij lehnt ab, und lässt sich lieber in den Garten führen. Baba Lida, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, wurde im Alter von drei Jahren mit ihrer Schwester und Mutter nach Kasachstan deportiert. „Bis nach Semipalatinsk haben sie uns gebracht. Von dort aus ging es noch drei Tage lang weiter mit Ochsengespannen.“ Während sie erzählt, kommen ihr immer wieder die Tränen. Viele Kinder hätten nicht überlebt, seien auf dem Weg verhungert.

Eine Aufgabe fürs ganze Leben: Schuldirektorin Ljubow Kalina sammelt Spuren vom Leben der Transnistriendeutschen. /Foto: Othmara Glas

Leid in Kasachstan

Man merkt, dass die kleine Frau mit dem rosa Kopftuch nicht oft Gelegenheit hat, Deutsch zu sprechen. Immer wieder streut sie russische Wörter in ihre Rede ein. In Kasachstan lernte die heute 80-Jährige ihren Ehemann kennen, ebenfalls Deutscher. Auch er stammte aus Neudorf. 1965 verließen sie das Steppenland und gingen in die Ukraine. Weil sie dort jedoch kein Land bekamen, ließen sie sich in Transnistrien nieder. Es ist ein einfaches Leben, das Baba Lida hier führt. Die Söhne sind schon lange ausgezogen, der Mann mittlerweile verstorben. Gesellschaft leistet ihr vor allem Hund Schurik, der während des Gesprächs im Hintergrund bellt. Das Geld, das die Rentnerin vom transnistrischen Staat erhält, reicht kaum zum Leben. Umgerechnet sind es etwa 60 Euro. Auch deshalb baut sie trotz ihres hohen Alters Obst und Gemüse an; hält sich eine Ziege, die frische Milch gibt. Bis vor Kurzem stellte Baba Lida noch selbst Wein her, dann wurden ihr die Fässer geklaut. Jeden Abend betet sie zu Gott. Das Vaterunser spricht sie auf Deutsch, wie sie eindrucksvoll beweist. Ob sie nie den Wunsch hatte, nach Deutschland – in die Heimat ihrer Vorfahren – zu gehen? Doch, antwortet Baba Lida. In den 1990er Jahren ging sie nach Kassel. Doch dort habe es ihr nicht gefallen, sagt sie. „Hier bei uns grüßen sich die Leute auf der Straße. Dort waren alle so unfreundlich.“ Zum Abschied lädt sie die Besucher noch einmal dazu ein, ins Haus zu kommen. Auf dem Fußboden trocknen Walnüsse. Sie kramt aus einer Ecke einen Stoffsack und packt fast ein halbes Kilo für die Gäste ein. Smolenskij drückt ihr ein paar transnistrische Rubel in die Hand. Dann geht es zurück in die Hauptstadt Tiraspol. Lange winkt Baba Lida dem Auto nach. Wann sich wohl der nächste Deutsche zu ihr nach Karmanowa verirrt?

Othmara Glas

Mini-Land: Transnistrien

Gerade mal 200 Kilometer lang und nur etwa 20 Kilometer breit: Die Pridnestrowische Moldauische Republik – wie sich Transnistrien offiziell nennt – liegt zwischen der Republik Moldau und der Ukraine. Das überwiegend von Russen und Ukrainern besiedelte Gebiet spaltete sich im Jahr 1992 in einem kurzen militärischen Konflikt von Moldau ab. Der Zwergstaat wird jedoch von keinem Staat der Welt offiziell anerkannt – auch von Russland nicht. Allerdings unterhält Moskau gesonderte Beziehungen zu Transnistrien: So sind bis heute knapp 1500 russische Soldaten in dem schmalen Landstreifen stationiert. Transnistrien gehört darüber hinaus zu der von Russland unterstützen „Gemeinschaft nicht anerkannter Staaten“, zu der auch das Gebiet Berg-Karabach und die von Georgien abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien zählen. Einen Antrag 2014 auf Beitritt Transnistriens zur Russischen Föderation ließ Moskau bis heute unbeantwortet.

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