Breite Streuung: Warum der Moskauer Winterdienst die Gemüter erhitzt

Viele Moskauer finden, dass die Methoden, mit denen in der Stadt gegen Schnee und Eis vorgegangen wird, ihnen buchstäblich den Alltag versalzen. Die Kontroversen um die verwendeten Chemikalien reißen nicht ab. Ein Oppositionspolitiker ging zuletzt sogar vor Gericht.

Dieser Tage kommt auf Moskaus Straßen und Wegen nicht nur der Schneeschieber zum Einsatz. © moskva.pkmegapolis.ru

Im Moskauer Winter kann selbst der kurze Gang zum Laden um die Ecke zur kleinen Schlitterpartie geraten. Gegen Schneematsch und Eisplatten auf Straßen und Gehwegen sind oft die besten Schuhprofile machtlos. Um Unfällen vorzubeugen, greift der städtische Winterdienst deshalb tief in die Streusalzkiste und verteilt die weißen Kristalle großzügig auf Moskaus Straßen, wo sie neben Schnee und Eis auch die Schuhe der Fußgänger angreifen.

Zur kalten Jahreszeit kommen deshalb mehr Kunden zu Akop, der eine kleine Schusterei unter der Rolltreppe eines Einkaufszentrums nahe Moskau City betreibt. „Wegen der Kälte, dem Dreck und vor allem den Chemikalien auf der Straße leiden Schuhe stärker als im Sommer“, erklärt er. Jedoch schaden die Auftaumittel nicht nur dem Schuhwerk, sondern auch Mensch und Umwelt. Das behauptet zumindest der Moskauer Oppositions- und Kommunalpolitiker Ilja Jaschin.

Jaschin, der Vorsitzender des Krasnoselskij-Stadtbezirksrates ist, reichte Anfang Februar beim Gericht des Twerskoj-Stadtbezirks Klage ein, um künftig die Anwendung der Chemikalien in Moskau zu verhindern. Zuvor hatte er bereits eine Videobotschaft auf YouTube veröffentlicht und über die vermeintlichen Risiken von Streu- und Flüssigsalz aufgeklärt, welche „alles andere als ungefährlich“ seien. Dazu beruft er sich auf eine Studie von Wissenschaftlern der Lomonossow-Universität  aus dem Jahr 2009.

Jaschins Liste an Vorwürfen ist lang – und vielen Moskauern vertraut. Denn am Streusalz-Thema ist in der Winterzeit kein Vorbeikommen. Pünktlich mit dem ersten Schneefall kocht die Diskussion jedes Jahr aufs Neue hoch. Stellungsnahmen von Politikern, Zeitungsartikel und widersprüchliche Expertenmeinungen über Schaden und Nutzen sind an der Tagesordnung. Und im Netz erzählen die Moskauer ihre persönlichen Leidensgeschichten.

„Wenn ich mich in Moskau befinde, fühle ich mich ständig krank“, sagt etwa die Fotografin Jelena. Schuld daran sei Ameisensäure, die Bestandteil mancher Streumittel ist und bei Verdunstung die Atemwege reizen kann. Außerdem setzten die Chemikalien den Pfoten ihres Hundes stark zu.

Deshalb beklagte sich Jelena auf Mos.ru, der offiziellen Webseite des  Bürgermeisters, über die Massen an Streusalz, die im Innenhof ihrer Wohnanlage gestreut würden. Nach zwei Monaten bekam die Hundehalterin ein Antwortschreiben des Komitees für Tiermedizin. Darin wird ein direkter Zusammenhang zwischen angegriffenen Hundepfoten und der Streusalzverwendung bestritten, denn „Hautkrankheiten bei Tieren können durch eine Reihe von Faktoren wie falsche Ernährung und ansteckende Krankheiten ausgelöst werden“.

Aber wie schädlich sind die Chemikalien wirklich? An der Zusammensetzung von russischem Streusalz scheint auf den ersten Blick nichts verdächtig zu sein. Kochsalz, Kaliumchlorid und auch die Ameisensäure kommen genauso auf Deutschlands Straßen zum Einsatz. Trotzdem entfachen die chemischen Schneeschmelzer dort bei Weitem keine solchen Debatten wie in Moskau. Ein möglicher Grund könnte die Verwendungsmenge sein. In Deutschland gehen viele Gemeinden äußerst sparsam mit chemischen Lösungen gegen die Glätte um. So erfolgen in Berlin  nur Punktstreuungen an bestimmten Stellen wie Kreuzungen von Hauptverkehrsstraßen. In Fußgängerzonen und auf Gehwegen wird komplett auf Streusalz verzichtet. Stattdessen kommt Splitt zum Einsatz, wie die Berliner Stadtreinigung auf Anfrage mitteilt.

In Moskau wird dagegen auf eine Streckenstreuung gesetzt, die auch Gehwege und Fußgängerzonen mit einschließt. Sobald die Bewohner ihre Häuser verlassen, sind sie und ihre Schuhe deshalb dem Salz öfter ausgesetzt als in einer deutschen Stadt. Dass die Fußbekleidung lediglich einen Winter überlebt, ist insofern keine Seltenheit.

Zuverlässig davor bewahren könne man seine Schuhe leider nicht, meint Akop. Wer sein Paar jeden Abend vom Salz befreie, tue ihm aber auf alle Fälle etwas Gutes. Dasselbe gilt auch für Hundepfoten. Was sie selbst angeht, ist Jelena jedoch ratlos: „Wie ich mich schützen kann, weiß ich nicht.“

Lena-Marie Euba

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