Leningrader Blockade: Ein geplanter Völkermord

Das St. Petersburger Stadtgericht hat auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Leningrader Blockade von 1941 bis 1944 als Völkermord eingestuft. Das Gericht nannte auch neue Zahlen der Verhungerten und konkretisierte die Anzahl der Helfer der Wehrmacht, die die Stadt in der Blockade hielten. Fragen und Antworten zum Gerichtsprozess.

Die Blockade Leningrads dauerte 872 Tage, vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944.

Wie wurde die Blockade Leningrads bis Oktober 2022 eingeschätzt?

Beim Nürnberger Prozess 1946 wurden der Blockade Leningrads drei Tage gewidmet. Einer der Zeugen war der Erzpriester Nikolai Lomakin. Von Februar bis Juni 1942 war er Geistlicher der Fürst-Wladimir-Kathedrale in Leningrad. Lomakin sagte dem Tribunal Folgendes: „Am Elternsamstag, dem 7. Februar 1942, vor Beginn des Großen Fastens kam ich das erste Mal nach meiner Krankheit wieder in die Kirche und das Bild, das sich meinen Augen bot, war niederschmetternd. Um die Kirche herum lagen Stapel von Körpern, die zum Teil sogar den Eingang versperrten. Auf den Stapeln lagen zwischen 30 und 100 Menschen. Sie lagen nicht nur am Eingang zur Kirche, sondern auch um die Kirche herum. Ich war Zeuge, wie die vom Hunger entkräfteten Menschen die Verstorbenen zum Friedhof zur Beerdigung bringen wollten, es aber nicht geschafft haben und selbst entkräftet neben den Entschlafenen niedersanken und dort auch starben. Solche Bilder sah ich oft …“

In Nürnberg nannte man die Zahl der in den Jahren der Blockade Umgekommenen: 632 253 Menschen. 3 Prozent davon starben durch Artilleriebeschuss, 97 Prozent an Hunger. Die Anklage stufte die Blockade Leningrads als Kriegsverbrechen ein, als „sinnlose Zerstörung der Stadt.“

Warum beschäftigt sich das Gericht 77 Jahre nach Kriegsende mit dieser Frage?

In Nürnberg haben die Taten der Faschisten in Leningrad keine juristische Einschätzung erhalten. Das sagte der Historiker Nikita Lomagin im Oktober 2022 während der Verhandlung, bei der es um die Anerkennung der Blockade Leningrads als Völkermord ging. Zum Teil hing es auch damit zusammen, dass bis Februar 1946 nicht alle Dokumente zusammengetragen worden waren.

„Alles, was weiter passierte (nach Nürnberg, Anm. d. Red.), das sind Schritte politischen Charakters von einer Reihe führender deutscher Politiker, die (jeder für sich) Entschuldigungen für das Geschehene ausgebracht haben. Eine juristische Bewertung gab es bis heute nicht“, zitiert die „Fontanka“ Nikita Lomagin. „Und in diesem Sinne ist eine solche Bewertung natürlich notwendig, damit alle verstehen können, was passiert ist. Die Folgen langen Hungerns haben übrigens nicht nur Auswirkungen auf die, die den Hunger überlebt haben, sondern auch auf ihre Kinder und Enkel. Das ist alles heute noch aktuell.“

In dem heutigen Prozess sieht der Historiker auch einen politischen Sinn. Das Blatt „Iswestija“ führt die Äußerungen Nikita Lomagins an, die die Aktualität erklären, die Blockade Leningrads als Völkermord einzustufen: „ Seit Anfang 2014 trennt die Interpretation, was Nazismus sei, Moskau und Berlin. Der Umsturz in der Ukraine, wo die Ideologie des Nationalismus die Oberhand gewann, wurde faktisch auch von der deutschen Regierung unterstützt. Dabei trat sie im Februar 2014 als Garant einer friedlichen Lösung auf. Die Nichtumsetzung des Minsker Abkommens und die Unterstützung eines radikaleren Nationalismus stellen seitdem die Frage auf die Tagesordnung, ob wir zu Ende gebracht haben, wogegen wir von 1941–1945 gekämpft haben.“

Auf welchen neuen Grundlagen beruht die Entscheidung?

Bei Gericht nannte man erstmals die aktuelle Summe des Schadens , der der Stadt von den Nazis und ihren Helfern zugefügt wurde. Es sind über 35 Trillionen Rubel (heute etwa 560,5 Milliarden Euro).

Außerdem wurden Beweise für die Beteiligung von Vertretern einer Reihe von Staaten an der Blockade angeführt. Neben den Truppen der Wehrmacht waren auch bewaffnete Einheiten Finnlands, Belgiens, der Niederlande, Norwegens, Spaniens und Italiens sowie einzelne Vertreter Österreichs, Lettlands, Polens, Frankreichs und der Tschechoslowakei beteiligt.

Es wurde die konkretisierte Anzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung Leningrads genannt und die Methode der Zählung vorgestellt. So wurde von Wissenschaftlern festgestellt, dass es nicht weniger als 1 093 842 Personen waren.

Dokumente wurden vorgelegt, die beweisen, dass Adolf Hitler vorhatte, Leningrad auszuhungern und auszuradieren. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg verbot die Genfer Konvention, den Hunger als Mittel der Kriegsführung einzusetzen.

Hat das Urteil juristische Folgen?

Das Gericht hat entschieden, dass die Blockade Leningrads ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord an nationalen und ethnischen Gruppen, die Teil der Bevölkerung und der Völker der UdSSR waren, darstellt. Expertenmeinungen zufolge erlaubt diese Gerichtsentscheidung, an die juristische Verantwortung der Länder zu appellieren, die die Stadt im Blockadezustand hielten. Die Überlebenden der Blockade und ihre Verwandten können Klage gegen die deutsche Regierung erheben und Wiedergutmachung fordern.

Wie fielen die Reaktionen im Ausland aus?

Schwach. Deutsche Medien berichteten darüber, dass die Anhörungen im Fall der Anerkennung der Blockade Leningrads als Völkermord beginnen. Äußerungen von Politikern gab es dazu keine. Im Unterschied zu dem vor einem Jahr gefällten Urteil, den jüdischen Blockadeopfern eine monatliche Wiedergutmachung zu zahlen. Darüber waren in Russland viele empört, dass nur den jüdischen Überlebenden der Blockade eine Wiedergutmachung gezahlt wird und nicht allen. Der Sprecher des deutschen Auswärtigen Amts Christofer Burger erinnerte daran, dass „die Reparationsfrage für allgemeine Kriegsschäden mit dem Verzicht der früheren Sowjetunion auf weitere deutsche Reparationsleistungen 1953 abgeschlossen wurde.“

Wie anerkannt oder umstritten ist unter Historikern der offizielle deutsche Standpunkt zur Blockade?

Einige Jahrzehnte war man der Meinung, dass die Taten der Wehrmacht in und bei Leningrad gewöhnliche Kriegshandlungen waren. In den letzten Jahren jedoch stufen viele deutsche Historiker die Handlungen der faschistischen Eroberer in Leningrad als Völkermord ein. Daran erinnerte Nikita Lomagin bei der Gerichtsverhandlung. „Das sind Bücher, die in deutscher Sprache veröffentlicht wurden. Sie basieren auf einer Menge Material und spiegeln objektiv das wider, was mit Leningrad geschehen ist“, sagte einer der bekanntesten Blockadeforscher
der Welt.

Olga Silantjewa

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