Im demografischen Loch

Das vergangene Jahr kann man aus demografischer Sicht nicht gerade als erfolgreich bezeichnen. Daran ist nicht allein die „Spezialoperation“ schuld. Die MDZ sprach mit einem der führenden Demografie-Experten in Russland Alexej Rakscha.

Alexej Rakscha ist in russischen Medien als Demografie-Expert gefragt wie kein anderer. (Foto: YouTube)

Welche demografischen Ergebnisse hat das Jahr 2022 aufgezeigt?

In Zahlen sieht es so aus: 1.908.000 Sterberate, 1.306.000 Geburtenrate. Auf eine Frau kommen 1,44 Kinder, 2021 waren es 1,5. Wenn bei uns die Struktur der Sterblichkeit erhalten bliebe, d.h., die Verteilung der Sterblichkeit nach einem bestimmten Alter, so wie im vorvorigen Jahr, so müsste die Lebensdauer nach meinen Berechnungen 72,7 Jahre betragen. Aber Gesundheitsminister Muraschko nannte uns eine andere, niedrigere Zahl. Daraus schlussfolgere ich, dass die an der Front Gefallenen in dieser Statistik berücksichtigt werden. Dadurch verringert sich die mittlere Lebensdauer bei der gleichen Sterblichkeitsrate, denn an der Front sterben hauptsächlich junge Männer. Wie viele genau, bleibt den Forschern verborgen, denn seit März vergangenen Jahres gibt die staatliche Statistikbehörde keine Statistik der Verstorbenen nach Geschlecht und Alter heraus.

Wie groß ist der Schaden, den Kriegsverluste der russischen Demografie und der Wirtschaft zugefügt haben?

Die Verluste durch Migration sind um das Zehnfache erheblicher als die Verluste aus den Kriegshandlungen. Erstens sind es um ein Vielfaches mehr Menschen, die nach dem 24. Februar Russland verlassen haben. Zweitens sind es weitaus gebildetere und wohlhabendere Leute, die Fremdsprachen beherrschen, Kenner moderner Fachgebiete und Berufe, die einen großen Beitrag bei der Entwicklung der Wirtschaft in Russland leisten könnten, es aber jetzt nicht tun. Das ist sehr wichtig. Und sehr schlecht.

So beeinflussen also die russischen Verluste aus den Kriegshandlungen das allgemeine demografische Bild nicht sonderlich?

Im Moment ist es so. Es sind die größten Kriegshandlungen seit dem Großen Vaterländischen Krieg, die in weniger als einem Jahr mehrere Zehntausend Leben kosteten. Die Zahlen sind aber um ein Vielfaches geringer als die Anzahl der Ausgereisten. Das wirkt sich im Moment jedoch sehr wenig auf die allgemeine demografische Situation aus. Nach meinen Berechnungen verlieren die Männer dadurch nur 0,6 Jahre an Lebensdauer im Vergleich dazu, wenn die Spezialoperation nicht begonnen hätte. Wenn die Verluste bei minimaler Bewertung auf alle Männer verteilt werden. Die Demografen bemerken es, die Bevölkerung nicht.

Die Ausgereisten werden von der Bevölkerung sehr wohl bemerkt.

Ich bevorzuge es, nicht von Ausgereisten, sondern vom Saldo, vom Restbestand zu sprechen, von Ausgereisten minus Rückkehrer. Meine Einschätzungen stützen sich auf Interviews, Aussagen von Migrationsbehörden anderer Länder und auf Statistiken, wenn es sie gibt. Auf sie kann man aber nur in wenigen Ländern zugreifen. Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, die Statistik in allen Ausreiseländern zu untersuchen, aber was die größten unter ihnen betrifft, kann man eine grobe Einschätzung geben. Aus der russischen Statistik kann man nichts entnehmen.

Und wie sieht der Saldo aus?

Über die erste Ausreisewelle besteht Einigkeit unter den Demografen. Nach dem 24. Februar reisten ungefähr 150.000 Personen ohne Rückkehrabsichten aus. Danach sind viele zurückgekommen und dann wiederum ausgereist. In der zweiten Welle nach der Verkündung der Mobilmachung am 21. September haben zwischen 300.000 bis 350.000 das Land verlassen, bis hin zu 700.000. Genauer kann man es nicht sagen, und ich wage es auch nicht.

Und davor gab es noch Corona.

Russland hat Corona meiner Meinung nach 1.120.000 Menschenleben gekostet. So hoch war die überbordende Sterblichkeit in der Pandemie. Das ist ungefähr das Dreißig bis Fünfundvierzigfache der Verluste aus den Kampfhandlungen in der Ukraine. Aber die in der Pandemie Verstorbenen hatten ungefähr noch 10 bis 15 Jahre zu leben, die an der Front Gefallenen noch 30 bis 35 Jahre, also dreimal länger. Deshalb beträgt der Unterschied nicht das Vierzig- bis Fünfzigfache, sondern er ist dreimal kleiner. Daraus folgt, dass Corona für die Demografie rund fünfzehnmal schwerer wog als die bisher erlittenen Verluste durch die Kriegshandlungen. Im Großen und Ganzen war die Reaktion auf den 24. Februar nicht sehr bemerkbar, das Sinken der Geburtenrate war nicht so einschneidend, wie ich erwartet hatte. Die Folgen der Ausreise werden in der Juli- und der Auguststatistik zu sehen sein. Ich bin beinahe überzeugt, dass es spürbarer sein wird.

Welchen Rückgang der Geburtenrate erwarten Sie?

Wie beeinflusste der 24. Februar die Geburtenrate? Wenn man zu diesem Datum 38 Wochen hinzufügt, kommen wir auf Mitte November. Nach Angaben des Amtes für Personenstandswesen in Burjatien, das als einziges in Russland die tägliche Statistik der Geburten, Todesfälle, Eheschließungen und Scheidungen veröffentlicht, sehe ich einen Einbruch. Aber er war nicht wesentlich und nur kurzzeitig. Er war sehr schnell vorbei, schon nach zwei bis drei Wochen. In Burjatien fiel die Geburtenrate im November um 13,5 Prozent. Dabei gibt es Regionen, die ein Wachstum zu verzeichnen haben, das größte in Dagestan. Hier deutet sich eine gewisse Gesetzmäßigkeit an. Es ist offensichtlich, dass der Beginn der Kriegshandlungen im Unterschied zur Mobilmachung keinen so großen Schock für die Russen darstellte, wenn man die Geburtenrate anschaut. Das bestätigen auch die Umfragen der Soziologen.

Welche Faktoren beeinflussen sie noch?

Der negativste Faktor, der die Geburtenrate in Russland noch mehr zurückgehen lässt, ist die Verschiebung des Hauptteils des Mutterschaftskapitals vom zweiten Kind auf das erste. (Es geht um Geldmittel, die der Staat einmalig den Eltern zur Verfügung stellt. 2023 wird die Förderung in Höhe von 585.500 Rubel gezahlt, umgerechnet etwa 8000 Euro – Anm.d.Red.). Das gilt seit Anfang 2022, und bereits nach drei Quartalen hatte die Entscheidung einen wesentlichen Rückgang, ungefähr minus 27.000 Geburten des zweiten Kindes, zur Folge. Das wird sich fortsetzen und verstärken. Die Erfahrung zeigt, dass man die Geburt des ersten Kindes nicht zielgerichtet beeinflussen kann, im Unterschied zur Geburt des zweiten. Die zweiten und dritten Kinder sind sehr „ökonomisch“ geartet: Ihre Geburt hängt in großem Maße von den realen Einkünften der Bevölkerung ab. Hier existiert ein sehr starker Zusammenhang, man kann 87 bis 90 Prozent der Veränderung der Geburtenrate für die zweiten, dritten und vierten Kinder mit den Veränderungen in den Realeinkommen der Bevölkerung vom Vorjahr erklären. Wichtig ist, dass die Dynamik der Geburten der Erstlinge in Russland mit dem Einkommen nicht in Zusammenhang steht. Die Situation in der Pandemie hatte einen wesentlich kleineren und nur zeitweiligen Einfluss. Der erste zeitlich bedingte Rückgang der Geburten trat schon nach den Lockdowns vom April und Mai 2020 ein, der zweite laut Geburtenstatistik für März 2022, offensichtlich aufgrund der Befürchtungen wegen der Impfungen vom Juni-Juli 2021. Das war nicht nur bei uns so, sondern in vielen Ländern. In Europa war die Situation ähnlich.

Mutterschaftskapital hilft, auch wenn die Zukunft unsicher ist?

Genau, deshalb hat das Mutterschaftskapital auch funktioniert. Man kann es sofort erhalten und einsetzen, besonders wenn der Empfänger einen Hypothekenkredit aufgenommen hatte. Wenn man jedoch monatliche Zahlungen anbietet, so wirken sie natürlich unterstützend und holen die Menschen ein bisschen aus der Armut, haben aber auf die Demografie keinen Einfluss. Die Menschen betrachten das nicht als Stimulus. Das Mutterschaftskapital hat in den Jahren 2015 und 2016 gut funktioniert. Die Geburtenrate war rekordverdächtig. Russland hat zeitweilig sogar einen Platz unter den ersten zehn Industrieländern bei der Geburtenrate eingenommen. Dann kam die Krise. Der Ölpreis sank, das Einkommen der Bürger verringerte sich um 10 Prozent, wir sind bis heute nicht wieder auf dem Einkommensniveau von 2013. Danach wurde von 2015 bis 2020 das Mutterschaftskapital nicht mehr angeglichen. Aber das Wichtigste war die anfängliche Begrenzung der Dauer des Förderungsprogramms als Mittel zum „Herausholen“ von zusätzlichen Kindern aus den Frauen. Sie beeilten sich, solange das Geld vergeben wurde. Die zeitlichen Begrenzungen schadeten auch dem 2020 aufgelegten Programm der Zahlung von 450.000 Rubel zur Tilgung des Hypothekenkredites an die Eltern des dritten und jedes weiteren Kindes. In den Jahren 2020, 2021 und in drei Quartalen des Jahres 2022 regte das Programm die Geburt von 87.000 Kindern an. Solche Programme sind notwendig, wenn die Geburtenzahlen zurückgehen.

Rückgang wegen des demografischen Lochs der 90er Jahre?

Ja, es gibt auch einen solchen Faktor wie die Verbreitung von Smartphones, der sich sehr negativ auf die Geburtenrate auswirkte, besonders der ersten Kinder. Mit dem Gerät, das immer zur Hand ist, gibt es auch Pornos und eine Menge an Zerstreuungen. Die jungen Leute hatten weniger Sex. Das begann in der ersten Hälfte der 2010er Jahre und verbreitete sich wellenartig zuerst in den Industriestaaten und seit 2015 in der ganzen Welt, zuerst bei den jungen Frauen und dann auch bei den Vierzigjährigen. Und natürlich das demografische Loch. Wir beobachten eine sich fortsetzende Verringerung der Anzahl von Frauen zwischen 19 und 38. 2030 wird es 40 Prozent weniger von ihnen geben als 2010. Und wie viele Kinder jede von ihnen haben wird, hängt von den Programmen ab, von denen wir gesprochen haben und natürlich auch von den Einkommen der Bevölkerung, dem Vorhandensein einer Zukunftsvision und von dem Vertrauen in die Zukunft.

Das Interview führte Igor Beresin.

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