Grüner Bürgerprotest von Schijes jetzt preisgekrönt

Der Name der kleinen Bahnstation Schijes in der Region Archangelsk steht für einen der größten Erfolge der Zivilgesellschaft in Russland: Hartnäckiger Widerstand der Bevölkerung brachte eine dort im Bau befindliche Deponie für Müll aus dem 1000 Kilometer entfernten Moskau zu Fall. Weil die Umweltproteste auch vor Gericht ausgetragen wurden, gab es dafür jetzt einen juristischen Fachpreis. Die MDZ sprach darüber mit dem Anwalt Alexander Kosenkow aus Archangelsk, der Rechtsbeistand der Deponiegegner war.

Die Volkshelden von Schijes bei der Preisverleihung in Moskau (Foto: Legal Insight)

Das Moskauer Journal „Legal Insight“ hat Anfang März die Rechtsfälle des Jahres 2021 in 15 Kategorien ausgezeichnet. Einen Preis nahmen auch Vertreter der Bürgerinitiative „Sauberes Urdoma“ entgegen, die zu den Wortführern der Proteste gegen das Deponieprojekt in Schijes gehörten. Was bedeutet Schijes für Sie?

Eine breite Volksbewegung, die es verstand, sich selbst zu organisieren. Nach Umfragen waren 96 Prozent der Menschen in der Region Archangelsk und in der benachbarten Komi-Republik gegen die Deponie. Der Protest wurde von echtem Patriotismus getragen. Wohlgemerkt: Hier waren keine professionellen Umweltschützer am Werk. Es war das sogenannte einfache Volk, das dagegen aufbegehrte, unter anderem mit einem Lager direkt auf der Baustelle.


„Stärker als Beziehungen und Geld“

In der Begründung der Jury von „Legal Insight“ für die Nominierung zum Rechtsfall des Jahres heißt es: „Der Fall Schijes hat gezeigt, dass … die öffentliche Meinung im Verbund mit juristischer Kompetenz stärker sein kann als Beziehungen und Geld. In Russland kommt das nicht besonders sehr häufig vor, deshalb ist es jedes Mal ein Präzedenzfall.“


Sie selbst kennen die Auseinandersetzung aus der Innenperspektive, weil Sie als Rechtanwalt daran mitgewirkt haben. Was war das für ein Verfahren?

Die Gemeindeverwaltung von Urdoma (einem Schijes nächstgelegenen Orte – d. Red.) stand auf die Seite der Deponiegegner. Als die Investitionskommission der Region Archangelsk das Projekt dann im Herbst 2018 befürwortet hat, ist die Gemeinde vor Gericht gezogen. Dafür hat man mich um Hilfe gebeten.

Worauf stützte sich die Klage?

Darauf, dass die Bauarbeiten am „Ökotechnopark“ überhaupt keine rechtliche Grundlage hatten und vorhandene Bauten wieder abgerissen werden mussten. So ist es am Ende ja auch gekommen. Aber das Verfahren vor dem Schiedsgericht der Region Archangelsk hat sich lange hingezogen. Es ging dabei auch gar nicht um Umweltfragen, sondern sehr formelle Aspekte. Das Urteil ist erst ergangen, als die Politik das Projekt bereits fallen gelassen hatte. Das Schiedsgericht des nordwestlichen Föderalbezirks hat das Urteil im Februar 2021 bestätigt. Das war dann ein endgültiger Schlussstrich unter dieser Angelegenheit.

Hat dieser Ausgang Sie zufriedengestellt?

Überhaupt nicht. Niemand hat irgendwelche Fehler zugegeben, nichts wurde aufgearbeitet. Obwohl das Deponieprojekt am Widerstand der Menschen in der Region gescheitert ist, die von Anfang an dagegen waren, hat man das überhaupt ignoriert und so getan, als sei das Ganze ein administrativer Vorgang. Der alte Gouverneur hat das Projekt befürwortet, der neue hat es gestoppt, so als wäre nichts gewesen. Und wenn man genau hinschaut: Das Gelände in Schijes ist zwar rekultiviert worden, aber für mich sieht das eher nach einer Konservierung als Liquidierung aus. Im Zweifelsfall könnten die Arbeiten wiederaufgenommen werden. Zumal das Problem des Moskauer Mülls ja alles andere als gelöst ist.

Von der Jury des Wettbewerbs, den „Legal Insight“ veranstaltet, werden Rechtsfälle ausgewählt, die „die rechtliche Realität verändert“ haben. Inwiefern trifft das auf Schijes zu, wenn doch vor Gericht nur nachvollzogen wurde, was die politische Vorgabe war?

Dass die Deponie nicht gebaut wurde, ist allein das Verdienst der Leute, die dagegen protestiert haben. Deshalb freue ich mich, dass sie mit diesem Preis zumindest auf diesem Wege eine Anerkennung bekommen. Die juristische Seite hat keine ausschlaggebende Rolle gespielt. Trotzdem ist dieser Fall ein Beispiel, dass unsere Gerichte gerechte Urteile fällen können. Dass man Recht bekommen kann, wenn man Recht hat. Ich sehe den Effekt in meiner Praxis, wenn sich Leute mit derartigen Anliegen an mich wenden. Die Resonanz ist offenkundig. Übrigens auch auf der Verliererseite: Weil viele Gemeinden die Proteste unterstützt haben, laufen Bemühungen des Gesetzgebers, die Entscheidungsbefugnisse auf die Kreisebene zu verlagern, damit sich das nicht wiederholt.

Alltagsszene aus Schijes: Aktivisten versuchen Wachleuten ins Gewissen zu reden. (Foto: Tino Künzel)

Im Kontext von Schijes war oft dezidiert vom „russischen Norden“ als Subjekt der Proteste die Rede. Man konnte den Eindruck gewinnen, als lebten dort Menschen, die sich von denen im Rest des Landes unterscheiden. Vielleicht ist das ja auch so?

Dieses kulturhistorische Moment hat schon seine Berechtigung. Der Norden ist der Inbegriff von Russland. Er wurde nie erobert. Im Gegenteil: Hierher haben sich die Menschen vor den Tataren geflüchtet. Hierher wurden später „Kulaken“ und andere „Volksfeinde“ verbannt. In unseren Orten hat jeder Zweite ukrainische Wurzeln und jeder Dritte deutsche. Das ist eine Gegend, die nie unabhängig war, aber eigenständig ist. Die beweist: Die Russen sind keine Sklaven. Sie können für sich einstehen.

Lassen sich die Geschlossenheit und Solidarität, die den Kampf um Schijes auszeichneten, auch auf andere Lebensbereiche übertragen? Wer in sozialen Netzwerken mitliest, hat eher das Gefühl, dass viele Aktivisten von gestern sich heute in der Frage der russischen „Sonderoperation“ in der Ukraine absolut unversöhnlich gegenüberstehen. Sie selbst wurden schon heftig von früheren Mitstreitern attackiert.

Und das ist noch nicht mal die erste Spaltung. Zahlreiche Aktivisten von Schijes waren später entschiedene Impfgegner. Ich glaube, dass der Tag kommen wird, an dem die Leute solche Dinge mit kühlem Kopf bewerten. Im Moment dominiert leider nicht rationales Denken, sondern irrationales und archaisches.

Das Interview führte Tino Künzel.

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