Gestanden-stämmige Figur, ein offenes Gesicht, unterbrochen von einer randlos-modischen Brille, leicht fliehendes, ordentlich gelegtes Haupthaar, adrett-gediegen gewandet. Tobias Reisner kommt wie ein typischer Wirtschaftsmanager daher, wie ein erfolgreicher. War und ist er tatsächlich, aber noch mehr. Ein Mann, der eigentlich nicht viel Aufheben um sich selbst machen will. Ein eher zurückhaltender und moderater Mensch, meist mit einem freundlich-sympathisierenden Lächeln.
So liest sich kurz seine Vita, die seines sozusagen professionellen Vorlebens: Ab 1989 „Stammhauslehre“ und „Ausbildung für zukünftige Manager“ bei Siemens in Erlangen. Von der Pike auf durchgängig im Fachbereich „Medical Engineering/Medical Solutions“, eine Bilderbuchkarriere. Auslandseinsätze mit stetig wachsenden Verantwortungen und Positionen weltweit: Polen, Bulgarien, Japan, Russland, China. Anfang 2005 als „Head of Global Audit“ zurückberufen nach Deutschland. Da hatte er schon seit zwei Jahren gemeinsam mit seiner russischen Frau, die heute das Geschäft führt, und seinem Schwiegervater ein eigenes Unternehmen gegründet – in Moskau: ANTOR, ein Softwareentwickler mit derzeit rund 80 Mitarbeitern, über die Jahre 3500 aktiven Installationen bei Kunden wie Coca Cola, Knauf oder die Metro Gruppe. Im Frühjahr 2005 stellte er sich auf eigene Füße.
Erfolg mit Mode für Menschen mit Behinderungen
Zurück in der russischen Hauptstadt begann schließlich ein ganz anderes Feuer in ihm zu brennen. Beinahe ein Fünftel der Weltbevölkerung, 1,3 Milliarden Menschen, muss mit körperlichen Behinderungen aller Arten und Schweregraden leben. Deren Bedürfnisse und Wünsche würden von Industrien weitgehend ignoriert oder als wenig geschäftsträchtig angesehen, erkannte Reisner. Hilfe und Zuwendung erführen sie vor allem aus karitativen oder privat-philantropischen Beweggründen: „Diese Menschen werden als vollwertige Mitbürger nicht ernst genommen“, klagt er an. Tobias Reisner beschloss, genau das zu tun.
2008 ließ er Marketkompas registrieren, mit dem Ziel, Aktivitäten für Menschen mit Behinderungen zu generieren, zu organisieren und zu realisieren. Seine preisgekrönte Marke Bez Graniz Couture (Couture ohne Grenzen) hatte zwischen 2011 und 2017 Auftritte mit Behinderten als gefeierte Models – auf Fashion Weeks von Moskau bis Los Angeles – mit hilfreicher und tragbarer Mode für Menschen mit den verschiedensten Einschränkungen.
Blindheitserfahrung wurde zum Schlüsselerlebnis
2012 hatte der heute 52-Jährige seinen Geburtstag im Moskauer Dark-Restaurant gefeiert – ein Schlüsselerlebnis. Die persönliche Erfahrung, wenn auch nur auf kurze Zeit blind zu leben, faszinierte ihn. Die schärfte seinen Sinn für das Leben von Menschen, die trotz Blindheit den Antrieb und den Mut haben, ihren eigenen Weg in einer fremden und befremdenden Welt zu gehen. Er schloss einen Franchise-Vertrag für Russland mit der etablierten Organisation Dialogue in the Dark – DiD aus Hamburg. Seither bietet Marketkompas das gesamte Portfolio von DiD an: Seminare, Ausstellungen, kulturelle Events und Konzerte – in völliger Dunkelheit. Inzwischen haben seine zehn sehbehinderten Coaches schon über 20 000 Management-Teilnehmer aus rund 250 russischen und internationalen Firmen professionell durch Business- Seminare geführt.
Der Zufall hilft
Mit „Konzerte in der Dunkelheit“ gewann er erste Erfahrungen in Hongkong und Singapur. Dann bei zahlreichen Darbietungen für insgesamt über 8000 Zuhörer in Moskau, organisiert in Partnerschaft mit dem Ministerium für Kultur – Center Integratsia der Moskauer Stadtverwaltung.
Wie das Leben so spielt: Irgendwann, irgendwo läuft ihm eine Michaela Steinauer aus Taunusstein bei Frankfurt über den Weg. Eine reife, quicklebendige Frau, eine Lehrerin, Schreiberin, Jazz-Pianistin, -Sängerin und Komponistin. Sie hat selbst 15 Jahre in Moskau verbracht und ihr Musiktalent an der Quelle, in den USA, vervollkommnet. Schnell teilen sie ihre philantropische Einstellung, ihre Leidenschaft für neue Ideen. Wie dann auch mit dem erfahrenen Musiker und Komponisten Roman Stoljar aus Nowosibirsk. Zusammen musizierten Michaela und Roman 2014 „blind“ als erste in Moskau. Für Thomas Reisner und die beiden die entscheidende Inspiration für das hehre Projekt „Musical in the Dark – Light Inside“ („Musical in der Dunkelheit – Licht aus dem Inneren“). Zwei Jahre dauerten die kreativen Schöpfungen von Thema, Lyrik und Musik.
Im April feiert das „Musical in the Dark“ Weltpremiere
Am Sonntag, dem 28. April dieses Jahres, um Schlag 18.30 Uhr, wird es im prestigeträchtigen Manege-Gebäude am Moskauer Kreml stockdunkel werden: zur Weltpremiere des allerersten „Musical in the Dark“. Ein für viele zunächst wohl auch verstörendes Erlebnis, denn der menschliche Sehsinn macht 80 Prozent der sensuellen Reize aus – und der wird beim „Musical in the Dark“ komplett ausgeschaltet. Dafür werden andere Sinne geschärft oder wieder ganz neu entdeckt: Naturgeräusche, der Geruch, das Tasten, die Umgebungstemperatur, die Feuchtigkeit auf der Haut und das Raumempfinden. Aber vor allem werden die Ohren neben der orchestralen und stimmlichen Musik – zwei Musiker und 75 weitere Teammitglieder sind blind – an die 40 verschiedene Töne überraschen.
„Bei jedem werden die vielfältigen immersiven Reize andere unvergessliche Interpretationen und Reaktionen auslösen“, ahnt Frontmann Reisner. Und was ist das jetzt für ein unsichtbares Märchen? Hier nur soviel: eine berührende Romanze zwischen der großstädtischen Karrierefrau Sweta und dem Waldprinzen Timon, der ihr – und allen Musical-Besuchern – wieder Dinge bewusst macht, die wir in unserer urban-unnatürlichen Umgebung gar nicht mehr wahrnehmen.
Auf Tournee durch Russland und die Welt
Zahlreiche weitere Aufführungen sollen dann bis Anfang Mai, im August und zur Jahreswende in Moskau folgen, ständig neu hinzugefügte virtuelle Reize Leute zu wiederholten Besuchen animieren. Schließlich, weiß Tobias Reisner von seinen Partnern bei der Moskauer Stadtverwaltung, sind in der Megapolis nicht weniger als eine Million Mitbürger an kulturell anspruchsvoller Unterhaltung interessiert, 56 000 davon, wird geschätzt, sollten an so einem ungewöhnlichen Erlebnis wie „Musical in the Dark“ wohl Interesse zeigen. Ab nächstem Jahr soll es mit dieser nie dagewesenen Produktion auf Tourneen in die größten Städte Russlands und dann für drei Jahre hinaus in den Rest der Welt gehen – „Musical in the Dark – Made in Russia“ im Dunkel von Sälen in Asien, Europa, den USA.
Zu seinen ehrgeizigen Plänen gesellt sich sein unerschütterlicher Erfolgswille und -glaube. Letztlich sind seine Ziele, dass die Akzeptanz und das Zusammenleben mit Menschen und ihren Behinderungen schlicht und einfach ganz „normal“ werden. Und dass er und seine Mitstreiter dazu ein gehöriges Scherflein beitragen können. Er selbst jedenfalls hat längst „alle Hochachtung“ vor Talent, Leistungsfähigkeit und Durchhaltevermögen von Leuten gewonnen, die mit so einschneidenden Einschränkungen zurechtkommen müssen: „Deren Erfolge begeistern mich.“
Die Familie ist ein starker Rückhalt
Dabei habe er doch eigentlich schon „alles erreicht“, lächelt Tobias Reisner zufrieden: internationaler Topmanager in einem global angesehenen Großunternehmen, Gründer und Miteigentümer eigener Firmen und Steuermann sozialer Initiativen zur Inklusion oft ausgegrenzter Menschen: „Da holt man sich auch schonmal ein blaues Auge und eine blutige Nase, aber man muss an seinen Vorstellungen festhalten, der Lohn ist ein Leben, das echt Sinn macht“.
Die Kraft dazu tankt er in Familie und in der Natur – voll russisch-eingemeindet: seit 20 Jahren mit einer Einheimischen verheiratet, drei ja zumindest halb-russische Kinder zwischen zwölf und 18, Gartenarbeit auf der Datscha, mit seinen zwei großen Hunden die Natur durchstreifen. Tobias Reisner ist ein Mann, der auf bestem Wege ist, gesellschaftlich so oft und leicht übersehenen Mitmenschen mehr Achtung zu verschaffen – und dabei sich selbst zu verwirklichen. Respekt.
Frank Ebbecke