Den Eisernen Vorhang überfliegen

Seit Grenzen durchlässiger geworden sind, kommen Flüchtlinge zu Fuß, mit dem Bus, in überfüllten Booten. Als der Eiserne Vorhang noch existierte, versuchten ihn viele in der Luft zu überwinden. Von mehr als 100 Flugzeugentführungen zu Sowjetzeiten glückten jedoch die wenigsten, während viele Unbeteiligte in Mitleidenschaft gezogen wurden, mit bisweilen tragischen Folgen.

Zu den Hauptdarstellern des Dramas „Geiseln“ gehört das Tupolew-Flugzeug vom Typ Tu-134, mit dem georgische Jugendliche 1983 in den Westen flüchten wollten. / YouTube

„Geiseln“ hat Regisseur Reso Gigi­neischwili seinen Film genannt, der am 21. September in den russischen Kinos angelaufen ist. Laut dem Branchenportal Kinopoisk.ru wollten den Streifen, der seine Weltpremiere im Februar auf der Berlinale hatte und im Juni beim Filmfestival Kinotawr in Sotschi Preise für Regie und Kameraarbeit bekam, seitdem rund 70.000  Menschen sehen. Von einem Publikumserfolg zu sprechen, wäre also verfehlt. Doch in den Medien ist der Film auf große Resonanz gestoßen. Und die ihn sich angeschaut haben, streiten in Kommentaren fast schon erbittert darüber, was Kino darf und soll.

In „Geiseln“ erzählt Gigi­neischwili eine Geschichte, an die sich viele in Russland und Georgien noch erinnern: Sieben junge Leute, sechs davon aus dem Künstler- und Ärztemilieu, aus gutsituierten, einflussreichen Familien, wollen am 18. November 1983 ein Flugzeug, das von Tiflis nach Batumi unterwegs ist, in die Türkei entführen, um ein neues Leben im Westen zu beginnen. Von den 57 Passagieren an Bord von Flug 6833 töten sie zwei, die sie versehentlich für Geheimdienstler halten, sowie drei Besatzungsmitglieder. Bei einem Schusswechsel im Cockpit stirbt einer der Terroristen, ein weiterer nimmt sich anderntags das Leben, als die nach Tiflis zurückgekehrte Maschine von einer aus Moskau angeforderten Sondereinheit gestürmt wird.

Die überlebenden Luftpiraten werden in einem Geheimprozess zum Tode verurteilt und am 3.  Oktober 1984 hingerichtet, mit Ausnahme der einzigen Frau unter ihnen, Tinatin Patwiaschwili, zur Tatzeit 19 Jahre alt und Architekturstudentin. Sie kommt für 15 Jahre ins Gefängnis, wird jedoch nach dem Zerfall der Sowjetunion im nunmehr unabhängigen Georgien begnadigt.

Auch die Täter waren Opfer – oder?

Die Titelseite einer Sowjetzeitschrift von 1984 mit den überlebenden Besatzungsmitgliedern der Tu-134 von Tiflis. / Pikabu

Neben der Schilderung der Ereignisse hat der Film eine zweite Ebene, an der sich die Zu­schauer reiben können, zumal auch sie einem Großteil vertraut ist: Es geht um die Sowjetunion im Endsta­dium, um Ideale, Angepasstheit, um Fragen an die Eltern und den Ausbruch aus einer erstarrten, ritualisierten Welt. Gigineischwili, Jahrgang 1982, ist in diese Zeit hineingeboren worden. Als die aus besten Verhältnissen stammende Clique, der sogenannten „Goldenen Jugend“ zugerechnet, 1983 das Flugzeug kapert, löst im Kreml gerade ein sterbenskranker Generalsekretär den nächsten ab. Und auch die Sowjetunion ist letztlich nicht mehr zu retten.

„Geiseln“ sind für Gigineischwili, der 1991 aus Georgien nach Moskau übersiedelte und seitdem in Russland arbeitet, alle Beteiligten: Opfer und Täter. Geiseln ihrer Zeit, die Menschen in geistige Zwangs­jacken steckte und die Intelligenzija vielleicht noch mehr bedrückte als alle anderen. Aber darf man das: Mitgefühl, Verständnis für Terroristen wecken, die, wie man weiß, keinerlei Rücksicht auf ihre Geiseln genommen hatten? Wie viel Egoismus und Skrupellosigkeit lässt sich mit der Sehnsucht nach Freiheit, mit den Mauern, die den Weg dorthin versperren, und den Mauern in den Köpfen relativieren? Zahlreiche Rezensenten und Kinogänger sind empört, zumindest in Russland. Ihnen gilt Gigneischwilis Film als weiterer Versuch, die Sowjet­union zu diskreditieren, das moralische Versagen Einzelner dem „System“ anzulasten und Verbrecher zu Patrio­ten umzudeuten.

In einem Interview mit der „Komsomolskaja Prawda“ sagte Gigi­neischwili, er habe nicht relativieren, sondern hinterfragen wollen: „Das Verbrechen ist passiert, niemand leugnet das und will es irgendwie entschuldigen. Wir analysieren, was Menschen an den Punkt bringt, von dem es kein Zurück gibt, zur Tragödie für alle, darunter auch die Attentäter selbst. Unser Film ist der Versuch, jene Zeit und jene Situa­tion zu reflektieren.“

Türkei bei Entführern besonders beliebt

Der Entführungsfall von 1983 war einer der denkwürdigsten, aber längst nicht der spektakulärste oder tragischste in der Sowjet­union. Experten haben zwischen 1954 und 1991 über 100 Flugzeugentführungen gezählt, von denen nur gut 20 erfolgreich waren. Besonders viele sowjetische Flugzeuge wurden in den 70er Jahren und kurz vor der Auflösung der Sowjetunion entführt: Allein 1990 waren es 33, ein Jahr später 16.

Statistiken verraten darüber hinaus etwas über die Geografie der Länder, in die Hijacker zu fliegen forderten. An der Spitze standen die Türkei und Schweden (26 bzw. 24 Entführungsversuche) vor Großbritannien (6) und den USA (4). Unter den Flugzeugtypen am meisten betroffen waren die Klein- und Mittelstrecken­flugzeuge Tu-134 (26) und Tu-154 (21) sowie An-2 und An-24 (je 15), was aber weniger mit ihren konstruktiven Eigenschaften zu tun haben dürfte als mit dem Zeitraum, von dem die Rede ist.

1970: Trabzon statt Batumi

Als erste geglückte Flugzeugentführung zu Sowjetzeiten gilt die Umleitung eines Inlandsfluges in die Türkei am 15. Oktober 1970. Die Antonow An-24 von Aeroflot hatte von Batumi nach Suchumi und weiter nach Krasnodar fliegen sollen, als der Litauer Pranas Brazinskas und sein 15-jähriger Sohn, die in der ersten Reihe saßen und bewaffnet waren, der Stewardess Nadescha Kurtschenko einen Briefumschlag mit Forderungen übergaben, die den Piloten ausgehändigt werden sollten. Als die 19-Jährige daraufhin „Überfall“ rief, wurde sie erschossen. Die Entführer verwundeten außerdem einen der 44 übrigen Passagiere sowie zwei Besatzungsmitglieder. Um das Leben der Fluggäste nicht zu gefährden, landeten die Piloten das Flugzeug im türkischen Trabzon. Eine Auslieferung der Entführer lehnte die Türkei in der Folge ab und stellte sie selbst vor Gericht: Vater Brazinskas wurde zu acht Jahren Haft verurteilt, der Sohn zu zwei. Im Zuge einer Amnestie kamen beide nach zwei Jahren frei. Nach einiger Zeit gelangten sie über Venezuela in die USA, nahmen dort den Familiennamen White an. 2002 erschlug der Sohn den Vater im Streit.

1973: „Bitte nach Schweden“

Gleich vier Blätter umfasste der Brief, den der 47-jährige Iwan Bidjuk der Besatzung auf einem Flug von Leningrad nach Moskau am 23.  April  1973 zukommen ließ. Darin hieß es: „Sie haben fünf Minuten zum Lesen! An den Flugkapitän und die Besatzung des Flugzeugs! Sehr geehrte Piloten! Bitte nehmen Sie Kurs auf Schweden, den Flughafen Stockholm. Verstehen Sie meine Bitte richtig, das sichert Ihr Leben und meines.“ Weiter schrieb der Entführer, er werde später vielleicht in die Sowjetunion zurückkehren, aber nur nach einem Treffen mit der „obersten Führung“. Den Tod fürchte er nicht, auch so könne man ja den „Krallen der Bluthunde“ entkommen.

Die Besatzung beschloss, nach Leningrad umzukehren. Als Bidjuk beim Landeanflug klar wurde, wo er sich befand, zündete er einen Sprengsatz. Dabei wurden er selbst und Bordmechaniker Wikentij Grjasnow tödlich verletzt. Den Piloten gelang es, die Tu-104 ohne Gefahr für Leib und Leben der 51  Passagiere zu landen.

1973: Absturz vor China

In einer Katastrophe endete dagegen die versuchte Entführung einer Tu-104 nach China knapp einen Monat später, am 18. Mai 1973. Um 9.38 Uhr verschwand die Maschine vom Radar, nachdem sie in 6500  Metern Höhe explodiert war. Alle 81 Menschen an Bord kamen dabei um. Der Entführer war auf der letzten Etappe eines Aeroflot-Fluges von Moskau über Tschelja­binsk, Nowosibirsk und Irkutsk nach Tschita in Irkutsk zugestiegen. Wie die Ermittlungen ergaben, handelte es sich um den 32-jährigen Tschingis Junus-ogly Rsajew. Als er das Flugzeug in seine Gewalt bringen wollte, schoss ihm ein Milizionär in den Rücken. Der sterbende Attentäter schaffte es jedoch noch, eine Detonation auszulösen.

1988: Jazzfamilie will nach London

Nach dem Tode ihres Mannes zog Nina Owetschkina in Irkutsk elf Kinder alleine groß. Die Familie war nicht nur sehr zahlreich, sondern auch besonders musikalisch. Die Söhne spielten als „Sieben Simeons“ Jazz. Ein Auftritt in Japan weckte das Verlangen, die Sowjetunion zu verlassen. Auf einem Flug von Irkutsk nach Leningrad am 8. März 1988 forderten die Owetschkins, Kurs auf London zu nehmen, ansonsten werde man das Flugzeug – eine Tu-154 – sprengen. Die Besatzung willigte scheinbar ein, man müsse jedoch in Finnland auftanken, hieß es. Stattdessen wurde die Maschine auf einem sowjetischen Militärflughafen gelandet und gestürmt. Nina und vier ihrer Söhne im Alter von 19 bis 26 Jahren begingen Selbstmord. Zuvor hatten sie eine Stewardess getötet. Drei Passagiere starben bei der Erstürmung.

Tino Künzel

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