Ein Leben für die Journalistik

Er hat den russischen Journalismus geprägt wie kein anderer. Oder zumindest die Journalisten. Mehrere Generationen von ihnen sind durch seine Schule gegangen. Jetzt ist Jassen Sassurskij, 43 Jahre Dekan der Fakultät für Journalistik an der Moskauer Lomonossow-Universität, im Alter von 91 Jahren gestorben. Eine Würdigung von Artjom Lyssenko, der unter ihm studiert und gearbeitet hat.

Jassen Sassurskij 2015 beim studentischen Abschlussball. Links sein Schüler Artjom Lyssenko. (Foto: Privat)

Ich kann mich nicht erinnern, auf dem Hof der journalistischen Fakultät der MGU jemals so viele Menschen gesehen zu habe. Sie alle wollten in den historischen Universitätsgebäuden an der Mochowaja-Straße gegenüber vom Kreml Abschied nehmen von Jassen Sassurskij. Der „ewige Jassen“, wie er manchmal im Scherz genannt wurde, war am 1. August gestorben – das Ende einer Ära.

Von 1964 bis 2007 – 43 Jahre lang – hatte Sassurskij als Dekan die Fakultät für Journalistik geleitet. Seitdem war er Präsident der Fakultät und blieb das bis zum letzten Lebenstag. Rund 20.000 zukünftige Journalisten haben in all den Jahren ihre Diplome aus seinen Händen in Empfang genommen. Viele bezeichnen ihn als ihren Lehrmeister. Sein Name weckt Erinnerungen an Jugend, Studentenleben und Forschungsarbeit.

Schon kurz nach der Gründung der Fakultät nahm Jassen Sassurskij 1953 seine Arbeit dort auf. Zwei Jahre später, mit 26 Jahren, wurde er Leiter des Lehrstuhls für ausländische Journalistik und Literatur. Davor studierte er am Moskauer Staatsinstitut für Fremdsprachen und promovierte über den Schriftsteller Theodore Dreiser.

Werdegang begann noch unter Stalin

„Ich wurde von fast allen Staatsführern unseres Landes, unter denen ich gelebt habe, ausgezeichnet“, sagte Sassurskij in einem Interview zu seinem 90. Geburtstag. Sein wissenschaftlicher Werdegang begann noch unter Stalin und ging in der Tauwetterperiode, 1968, in der Zeit der Stagnation, während der Perestroika und in den „wilden“ 1990er Jahren weiter. 2016 ehrte ihn der damalige Premier Medwedew für seinen „persönlichen Beitrag zur Entwicklung der Medien“. Die Nachrichtenagenturen verbreiteten damals ein Foto von Medwedew, wie er mit der Urkunde in der Hand vor Jassen Nikolajewitsch steht, der im Rollstuhl sitzt. In einem Interview sagte dieser, bald werde er wieder laufen können, und nannte sogar konkrete Fristen. Nicht alle haben daran geglaubt, denn selbst nach wenigen Monaten im Rollstuhl wieder auf eigenen Beinen zu stehen, noch dazu im fortgeschrittenen Alter, ist keine leichte Sache. Aber er bewies Willensstärke. 2017 sah ich, wie er durch die Fakultät lief und ohne jegliche Hilfsmittel auskam. In seinem Arbeitszimmer setzte er sich in seinen Lieblingssessel aus dem 19. Jahrhundert und startete eine wissenschaftliche Besprechung.

Ich arbeitete seit 2001 am Lehrstuhl unter Professor Sassurskij, nach meiner Promotion über die russische Emigrantenpresse im Deutschland der Weimarer Republik. Davor besuchte ich seine Vorlesungen als Student.

Im dritten Studienjahr hatte ich eine Chance, an einem Studentenaustausch mit der niederländischen Universität Windesheim teilzunehmen. Als die Studenten aus den Niederlanden nach Moskau kamen, wurden sie von Jassen Sassurskij empfangen. Er erzählte ihnen auf Englisch vom Leben der Studenten und Dozenten in Moskau. Nach diesem Gespräch fühlten sich die holländischen Studenten gleich viel wohler an der Fakultät. Wir erlebten etwas Ähnliches. Nach und nach, beileibe nicht sofort, wurde das Haus an der Mochowaja zu unserer akademischen Heimat, wo man dich versteht und unterstützt.

Fremdsprachenkenntnisse selbstverständlich

Sassurskij befürwortete jede Möglichkeit, die es uns Studenten erlaubte, unseren Horizont zu erweitern, Fremdsprachen zu lernen. Zu seinen Vorlesungen kam er oft selbst direkt vom Flughafen, war gerade erst aus den USA, aus Argentinien oder Italien zurückgekehrt. Oft lud er Journalisten aus anderen Ländern ein. So erfuhren wir aus erster Hand, wie etwa amerikanische oder deutsche Medien funktionieren. Diese offenen Kontakte mit den westlichen Fachleuten gaben uns viel.

Wenn wir Hilfe zu unseren Forschungsquellen für Referate und Artikel brauchten, fragte er immer: „In welchen Sprachen können Sie lesen?“ Er selbst beherrschte ein Dutzend Fremdsprachen und ging davon aus, dass seine Studenten und Aspiranten die Texte im Original lesen können.

Unsere Ausbildung war als ständiger Vergleich russischer und ausländischer Erfahrungen konzipiert. Kurse zur Geschichte der russischen und ausländischen Journalistik liefen parallel.

Ich erinnere mich bis heute an meine erste Vorlesung von Jassen Sassurskij am 1. September 1991. Seit dem Augustputsch war etwas mehr als eine Woche vergangen. Und in seiner Begrüßung legte Sassurskij den Schwerpunkt auf die Traditionen der Unabhängigkeit der Moskauer Universität. Kaum jemand von uns wusste damals, dass die Führungspositionen an der Uni über Wahlen besetzt wurden und dass das in der gesamten Geschichte so gewesen war – einschließlich der Sowjetzeit.

Geruch von Freiheit

Ideologische Verbote wusste der flexible und diplomatische Sassurskij elegant zu umgehen. Das wichtigste Resultat seines Wirkens an der Fakultät besteht nicht nur darin, dass die Studenten Zugang zu tiefem und vielseitigem Wissen erhielten, Unter dem Schutz des klugen und allseits respektierten Dekans lag unabhängig von den gerade herrschenden politischen Verhältnissen immer auch der Geruch von Freiheit in der Luft, ob nun zur Zeit meiner Eltern, die in den 1960er Jahren unter Sassurskij studiert haben, oder später.

Anfang Juni findet traditionell im Hof der Fakultät ein Absolvententreffen statt. Dabei sind viele gestandene Journalisten aus unterschiedlichen Medien und andere Gäste. Professor Sassurskij ließ es sich nie nehmen, die Veranstaltung zu besuchen. Im vorigen Jahr konnte sie wegen der Pandemie nicht offline stattfinden, deshalb gab es zumindest eine Videobotschaft vom Patriarchen. Dieses Jahr blieb auch das Video aus. Das ließ mich Schlimmes ahnen. Zwei Monate später kam die traurige Nachricht.

Artjom Lyssenko (47) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der journalistischen Fakultät der Lomonossow-Universität und Büroleiter des Deutsch-Russischen Forums in Moskau

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