Die Früchte einer Datschensaison

Den ganzen Sommer über hat MDZ-Chefredakteur Igor Beresin als waschechter Moskauer Staus und lange Wege in Kauf genommen, um möglichst viel Zeit auf der Datscha verbringen zu können. Aber nun geht die Saison zu Ende. Zeit, die Früchte der Arbeit in den Kofferraum zu packen. Oder auch nicht.

Aus dem eigenen Garten schmecken Obst und Gemüse doppelt so gut. (Foto: Tino Künzel)

Wer familiäre Wurzeln auf dem Land hat, darf sich glücklich schätzen. „Seine Mutter/Großmutter lebt noch immer auf dem Dorf und kümmert sich um die Pflanzen/arbeitet im Garten/macht den besten Selbstgebrannten“ – so ehrfürchtig spricht man über jene, die ihre Heimatorte bis heute nicht gegen die Annehmlichkeiten des Lebens in der Stadt eingetauscht haben. Das alles sitzt tief in uns. Selbst wenn die Familie rundum versorgt ist und auch ohne Obst und Gemüse aus eigener Ernte satt wird, schalten wir auf der Datscha in den Agrarmodus. Und eine dörfliche Herkunft ist dabei möglicherweise gar nicht ausschlaggebend. Auch Familien, die seit Generationen in der Stadt leben, spielen das Spiel mit. Und wie!  

Die eigenen Kartoffeln

Ich erinnere mich noch gut an unsere erste Datscha in der Region Twer. Die Grundstücke waren im Vergleich zu denen im Moskauer Umland riesig. Wie gemacht dafür, auf ihnen etwas anzubauen. Und das taten wir. Die Kartoffeln der Sorte „Blauauge“ waren formschön, aber vor allem waren sie unsere. Der Stolz der Familie! Was freuten wir uns, bis sich irgendwann herausstellte, dass wir diese Ernte gar nicht nach Moskau mitnehmen konnten. Ein Auto hatten wir damals noch nicht und eine Anlieferung hätte Unsummen verschlungen. So kamen unsere Dorfnachbarn zu einigen Säcken erlesener Erdfrüchte, die wir ihnen schenkten und die dankbar angenommen wurden.

MDZ-Chefredakteur und Datscha-Besitzer Igor Beresin hat eine ganze Datschasaison mit seiner Kolumne begleitet.

Aber kann so eine Lappalie etwa den landwirtschaftlichen Eifer des Städters bremsen? Auf gar keinen Fall. Schließlich ist man auf den Ertrag des Gemüsegartens ja gar nicht angewiesen, nicht deshalb nimmt man die Spitzhacke in die Hand. Aber weshalb dann?

In dieser Frage empfiehlt es sich, die Klassiker der russischen Literatur zu Rate zu ziehen. Zitat aus „Väter und Söhne“ von Iwan Turgenew: „Die Natur ist kein Tempel, sondern eine Werkstatt – und der Mensch ein Arbeiter darin.“ Das trifft es. Statt sich einfach nur an der Landschaft zu ergötzen, krempeln wir die Ärmel hoch. Das scheint ein inneres Bedürfnis zu sein.

Russische Landherren

Hier hält man mir entgegen: Was gäbe es Russischeres als den Gutsbesitzer Oblomow, die Hauptfigur aus dem gleichnamigen Roman von Iwan Gontscharow? Dieser Oblomow ist im Unterschied zu seinem Antipoden, dem Deutschen Stolz, ein Zuschauer und absolut untätiger Mensch. Das stimmt. Aber entweder wird der Datschnik aus der mittleren Zone Russlands zunehmend deutscher oder unser Leben ist so hektisch geworden, dass wir verlernt haben, uns in aller Ruhe der bloßen Betrachtung hinzugeben. Das Gras mäht sich nicht von allein und die Beete gießen sich nicht von selbst.

Noch ein wichtiger Begriff ist der des Landherren, was buchstäblich heißt, selbst etwas zu bewirtschaften, das Land zu bestellen, seine Früchte zu nutzen. Aber es bedeutet auch Herrschaft. Nikolaj II., Russlands letzter Zar, hat das auf den Punkt gebracht. Bei der ersten russischen Volkszählung 1897 trug er in die Spalte „Tätigkeit“ ein: „Herr des russischen Landes“. Herren über russischen Grund und Boden wollen auch wir sein. Und sei es auf einem winzigen Stück Land.

Die Ernte wird vorgezeigt

Die Frage ist, wie man diese Macht gebraucht und was aus der natürlichen „Werkstatt“ am Ende der Datschensaison im randvollen Kofferraum den Weg in die Stadt antritt. Die Möglichkeiten sind endlos und sie werden jetzt um diese Zeit in den sozialen Netzwerken ausgestellt. Ob nun Arbeiter oder Hochschuldozenten, Künstler oder Manager, Unternehmer oder Kraftfahrer, Kindergärtnerinnen und, scheint’s, sogar ihre Schützlinge – alle posten im Herbst ihre Datschentrophäen. Russland sieht sich an der Ernte satt.

Pilze sind ein wiederkehrendes Motiv und ein Thema für sich. Ich sehe mich außerstande, in einem Absatz jene unterzubringen, die alles außer Steinpilze verachten, und sehr besondere Menschen, die echte von falschen Hallimaschen unterscheiden können, ganz zu schweigen von Pilzsuppe, Buchweizenbrei mit Pilzen und eingelegten Pilzen, den unvermeidlichen Begleitern eines Gläschens Wodka.

Der Herbst ist zudem die Zeit der Apfelschwemme. Wenn die Ernte gut ausfiel, stellte unsere Mama Apfelsaft und Apfelmarmelade her, während wir Apfelscheiben trockneten. Aber die Äpfel gingen trotzdem nicht zur Neige.

Bringen Farbe in die Moskauer Wohnung: Kürbisse vom Lande. (Foto: Igor Beresin)

Kein Ende nehmen in vielen Haushalten auch die Konserven. Das ist nun ganz und gar nicht meine Welt. Ich beschließe die Saison mit nur leichter Fracht. Auf dem Rückweg nach Moskau kullern zwei Kürbisse im ansonsten leeren Kofferraum herum. Gekauft habe ich sie von einem alten Mann, der vor seinem Grundstück am Straßenrand auf Kundschaft wartete. Die wahren Landherren sind nicht wir Städter, sondern solche wie er.

Igor Beresin

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