
Nach Kiew und vor Moskau war auch Wladimir für einige Jahrhunderte der Mittelpunkt der russischen Welt. Seine ältesten bis heute erhaltenen Bauten standen schon, als die Mongolen 1238 die Stadt erstürmten. Heute gehören sie als „weiße Baudenkmäler“ zum Unesco-Weltkulturerbe.
Erbaut im modernistischen Sowjetstil
Als Referenz an diese Tradition wurde der Bahnhof zu Füßen der wichtigsten Kirchen mit weißem Kalkstein verkleidet. Dass er dem Auge schmeichelt, kann ansonsten wohl kaum behauptet werden. 1975 eingeweiht, ist er ein Beispiel modernistischer Architektur in der späten Sowjetunion. Seinen Vorgänger aus Zarenzeiten hatte man zuvor abgerissen.
Für Wladimir eröffneten sich damals neue Perspektiven. Der Moskauer Journalist Juri Bytschkow hatte mit einer Artikelreihe in der Zeitung „Sowjetische Kultur“ den „Goldenen Ring“ erfunden: Historisch bedeutende Städte in der weiteren Umgebung von Moskau wurden so durch einen roten Faden miteinander verbunden. Und Wladimir gehörte dazu, genauso wie das nur 30 Kilometer entfernte kleine Susdal, in dem das alte Russland besichtigt werden kann wie nirgendwo sonst. Also rüstete man sich nun für die Besucher, die da kommen sollten.
„Umarmen und beweinen“
Wie der neue Bahnhof auf die Touristen aus dem knapp 200 Kilometer entfernten Moskau und von anderswo gewirkt hat, ist schwer zu sagen. Doch fast 50 Jahre später macht er einen freudlosen Eindruck. Teile, die sein ergrautes Äußeres prägen, wie ein vierstöckiger Aufsatz für ein Hotel oder ein Rondell auf dem Dach, unter dem sich ein Restaurant befand, werden längst nicht mehr oder nur noch anderweitig genutzt. Die Innenräume sind verwinkelt und vollgestellt mit Ständen für Würstchen oder Kaffee zum Mitnehmen. Die Rolltreppen wurden schon lange abgeschafft.
Noch 2015 zählte die damalige Gouverneurin Swetlana Orlowa den Bahnhof zu den Problemobjekten der Region, die man „umarmen und beweinen möchte“. Die Russische Bahn plant seit Jahren eine umfassende Rekonstruktion. Doch als es konkret wurde, stieß das Vorhaben auf massive Vorbehalte bei der Stadt, bei Aktivisten und Architekten.
Keramikfliesen statt Kalkstein?
Vorgesehen ist nämlich unter anderem, den Kalkstein von der Fassade abzutragen und durch Keramikpaneele zu ersetzen, die mittels einer Halterung an den Ziegeln befestigt werden. In den 15 bis 20 Zentimeter breiten Spalt dazwischen kommt demnach wärmedämmendes Material. Die Bahn begründet das Projekt mit gesetzlichen Vorgaben zur Energieeffizienz, zudem seien Keramikfliesen pflegeleichter und resistenter gegen äußere Einflüsse. An Anblick und Anmutung des Gebäudes ändere sich damit nichts.
Das sehen Kritiker allerdings ganz anders. Sie rufen zu einer behutsamen Erneuerung mit Respekt vor dem Original auf. Was die Bahn plane, raube dem Bahnhof seine Einzigartigkeit und mache ihn beliebig. Im Internet-Fachjournal Archi.ru schrieb Chefredakteurin Julia Tarabarina Anfang des Jahres, der Bahnhof könne zu einer Sehenswürdigkeit für sich werden und zu einem positiven Beispiel für einen sorgsamen Umgang mit dem historischen Erbe, ähnlich dem konstruktivistischen Bahnhof in Iwanowo. Doch die Verwendung von Keramik statt Kalkstein „zerstöre“ das architektonische Ensemble.
Prominente Unterstützung
Ähnlich alarmiert äußern sich viele Experten, darunter auf der Seite der Bürgerinitiative „Das Wladimir der Zukunft“. Archi.ru veröffentlichte Ende Januar einen bemerkenswerten offenen Brief des Berliner Architekten Sergej Tchoban und der Direktorin des Moskauer Schtschussew-Architekturmuseums, Jelisaweta Lichatschjowa. Tchoban, der in Leningrad geboren wurde, hat sich weit über die Grenzen Deutschlands hinaus mit seinen Arbeiten einen Namen gemacht. Auch Moskaus höchster Wolkenkratzer, der Föderationsturm, und der russische Pavillon auf der Expo 2020 in Dubai entstanden nach seinen Entwürfen. Lichatschjowa wurde unlängst zur Direktorin des Puschkin-Museums befördert.
In dem Brief schreiben die Autoren, der Fall des Bahnhofs von Wladimir zeige, dass „der Wert der modernistischen Architektur und ihr Wesen von der großen Mehrheit der Russen nicht erkannt“ würden. Tchoban und Lichatschjowa brechen eine Lanze für die Sowjetarchitektur der 1960er bis 1980er Jahre und appellieren an die Verantwortlichen, sie nicht zu vernichten oder „bis zur Unkenntlichkeit“ zu verändern. Das bedeute nämlich, ganze Seiten aus der Geschichte herauszureißen und sie unlesbar zu machen. Die Petition wurde bis heute fast 5700 Mal unterzeichnet.
1000-Jahr-Feier als Zeitvorgabe
Derweil soll die Rekonstruktion des Bahnhofs zeitnah beginnen, um zum 1000. Stadtgeburtstag von Susdal – das keinen eigenen Bahnanschluss hat – im Sommer 2024 beendet zu sein. Das Bahnhofsgebäude wird dafür komplett geschlossen. Es wird innen in großem Stil um- und ausgebaut, soll barrierefrei werden, einen Food-Court bekommen und künftig auch die Funktionen des Busbahnhofs gegenüber mit übernehmen, um ein bequemes Umsteigen zu ermöglichen. Der Bahnhofsvorplatz wird umgestaltet.
Die Diskussionen um die Fassade hat der aktuelle Gouverneur Alexander Awdejew derweil praktisch für beendet erklärt. Auf einer Pressekonferenz äußerte er sich Mitte März in dem Sinne, dass keramische Fliesen das Beste seien, was dem Bahnhof passieren könne. „Wenn es in den 1970er Jahren solche modernen Materialien gegeben hätte, wären sie schon damals verwendet worden“, behauptete er.
Tino Künzel