Sie kommen immer nachts. Für die Moskauer gehört es schon fast zur Morgenroutine, auf dem Weg zur Arbeit in ihren Apps von neuerlichen Drohnenangriffen zu lesen, wenn die Gefahr bereits gebannt ist. Die Drohnen seien abgeschossen oder mit elektronischen Signalen zum Absturz gebracht und jedenfalls erfolgreich abgewehrt worden, heißt es regelmäßig vom Verteidigungsministerium und Bürgermeister Sergej Sobjanin. Personen- oder Sachschaden entsteht eher selten. Mal gehen in einem Wolkenkratzer in Moskau-City Scheiben zu Bruch, mal werden in einem Vorort Menschen von herabstürzenden Trümmern verletzt.
Doch nach solchen Meldungen zur Tagesordnung überzugehen, fällt zunehmend schwerer. War es am 3. Mai noch kaum zu glauben, als Drohnen über dem Moskauer Kreml auftauchten, sind die Angriffe spätestens seit Mitte August zum Alltag geworden. Auch die Geografie wird immer unberechenbarer. Zuletzt waren nicht mehr nur der Westen Moskaus und das dortige Umland betroffen, es wurden auch wiederholt Kampfdrohnen über Ljuberzy zerstört, einer Stadt, die im Südosten an Moskau grenzt. Das hinterließ nach Medienberichten Spuren an einigen Häusern.
Feuer in Kursk und Pskow
Wie relativ die Sicherheit in Moskau ist, machte unter anderem der 20. August deutlich. Eine Drohne krachte in das Dach des Bahnhofs von Kursk, woraufhin ein Feuer ausbrach. Es gab fünf Verletzte, 50 Menschen mussten aus dem Bahnhofsgebäude evakuiert werden. Kursk ist eine Großstadt 450 Kilometer südlich von Moskau und 150 Kilometer von der Grenze zur Ukraine.
Am 30. August erreichten Drohnen auch das 600 Kilometer nordwestlich von Moskau in Grenznähe zu Estland und Lettland gelegene Pskow. Auf dem internationalen Flughafen von Pskow gerieten schwere Transportmaschinen vom Typ Il-76 in Brand, meldete Tass unter Berufung auf offizielle Stellen. Der Flughafen wurde für einen Tag geschlossen.
Luftverkehr immer wieder ausgesetzt
Aber auch in Moskau hat die Situation ganz praktische Auswirkungen. Sobald ein unbekanntes Flugobjekt lokalisiert wird, tritt der sogenannte Plan „Kowjor“ (Teppich) in Kraft: Der Luftraum über Moskau wird ganz oder teilweise gesperrt. Auf einzelnen oder allen Moskauer Flughäfen dürfen dann keine Starts und Landungen mehr erfolgen. Das zieht je nach Dauer der Sperrung erhebliche Verspätungen und Flugausfälle nach sich. Oft müssen Flugzeuge auch auf Ausweichflughäfen landen. Häufig werden in diesem Zusammenhang St. Petersburg, Nischni Nowgorod und Kasan genannt.
Das kennt man sonst vor allem von Wetterunbilden und ist für die betroffenen Fluggesellschaften nichts Außergewöhnliches, stört aber speziell in Häufung die gesamte Logistik. „Kolossale Probleme“ hätten zudem Transitpassagiere, weil sie ihre Anschlussflüge verpassten, sagte Artur Muradjan, Geschäftsführer des Reiseveranstalters Space Travel, dem Verbandsjournal des russischen Verbandes der Reiseveranstalter (ATOR). Unlängst kam es zu geradezu tumultartigen Szenen, als eine aus Ankara kommende Maschine der renommierten Turkish Airlines statt in Moskau-Wnukowo in St. Petersburg-Pulkowo gelandet war und sich die Passagiere ihrem Schicksal überlassen fühlten.
Flüge nach Moskau eingestellt
Mit Turkmenistan Airlines hat eine erste Fluggesellschaft ihre Flüge nach Moskau bereits zum 1. August komplett ausgesetzt. Stattdessen fliegt sie nun von Aschchabad, der Hauptstadt Turkmenistans, nach Kasan 700 Kilometer weiter östlich. Begründet wurde das mit der „Lage im Moskauer Luftraum“ und der „Abwägung der Risiken im Sinne der Gewährleistung der Flugsicherheit“.
Gefolgt ist dem Beispiel bisher niemand. Als einige russische Telegram-Kanäle unter Berufung auf anonyme Quellen schrieben, Emirates werde in Kürze seine Flüge von Dubai nach Moskau und St. Petersburg streichen, sah sich die Fluggesellschaft zu einem Dementi veranlasst: Es gebe keine derartigen Pläne.
Aktuell werden vom Moskauer Flughafen Scheremetjewo Flüge in 28 Länder abgewickelt. Von Wnukowo sind es 18, von Domodedowo 17.
Fußballer kündigt Vertrag
Welche Sicherheitsvorkehrungen derweil die Moskauer für sich getroffen haben, ist schwer zu sagen. Einige berichteten in sozialen Netzwerken von Auswirkungen auf den Zugverkehr: Viele wollten offenbar vom Flugzeug auf die Bahn umsteigen, so dass es auf der intensiv befahrenen Strecke zeitweise keine Tickets mehr gab. Zum Ferienende und rund um den Schulbeginn am 1. September ist die Nachfrage allerdings auch ohne akute Anlässe traditionell besonders groß.
Ob sich die Abwanderung von Ausländern verstärkt, dazu liegen naturgemäß keine repräsentativen Angaben vor. Ein deutscher Expat bekam schon vor Wochen eine Whatsapp-Nachricht von Angehörigen, sie machten sich Sorgen: „Wenn es schlimmer wird, komm bitte erst mal nach Deutschland zurück.“
Der norwegische Fußballprofi Mathias Normann hat Anfang August seinem Klub Dynamo Moskau, zu dem er vom FK Rostow am Don ausgeliehen war, mitgeteilt, er fühle sich in Moskau nicht mehr sicher und kündige deshalb seinen Vertrag. Normann, der sogar seine Nationalmannschaftskarriere aufs Spiel setzte, als er im Sommer 2022 zu Dynamo wechselte, kickt neuerdings in Saudi-Arabien. Seine russischen Klubs halten die Sicherheitsbedenken für vorgeschoben und haben angekündigt, ihn zu verklagen.
Tino Künzel