Der Sommer im „Pro-Kreml-Camp“

Jeden Sommer lädt der russische Staat junge Leute aus ganz Russland ins Grüne ein. Die Zeltlager dienen offiziell der Bildung. Doch seit den Zeiten des skandalumwitterten, 2014 geschlossenen Camps am Seligersee werden ihnen auch ganz andere Ziele nachgesagt. MDZ-Autorin Alina Bertels hat sich kurz vor Saisonende im „Territorium der Ideen“, einem der Nachfolger, umgeschaut.

Jugendcamp

Zelte und Wimpelketten: das „Territorium der Ideen“. / Alina Bertels

Dmitrij Medwedew, der russische Regierungschef, und Sergej Lawrow, der Außenminister, waren auch schon da. Aber diese Woche sind die Gäste im „Territorium der Ideen“ bei Wladimir keine Politiker: Es geht um Medizin. 1000   Medizinstudenten aus dem gesamten Land lauschen im großen Veranstaltungszelt den Vorträgen verschiedener Redner. Anschließend rückt man zu kleinen Stuhlkreisen zusammen und diskutiert hitzig über die medizinische Bildung in Russland. Jede Gruppe arbeitet an ihrem eigenen Projekt, die besten werden prämiert. 100 000 Rubel (knapp 1400 Euro) erhalten beispielsweise die Autoren eines Projekts zur systematischen psychologischen Betreuung von Ärzten, womit ein sogenannter Burnout verhindert werden soll.

Im „Territorium der Ideen“ (auf Russisch „Territorija smyslow“), das jeweils in den Sommermonaten in einer ländlichen Gegend am Fluss Kljasma stattfindet, ist jede Woche einer anderen Fachrichtung gewidmet, von Sozial- und Wirtschaftswissenschaften über IT und Journalismus bis hin zu Nichtregierungsorganisationen oder eben Medizin. Entsprechend sind auch die Teilnehmer vom Fach. Die einzelnen Themengebiete stehen unter der Schirmherrschaft von Partnern: NGOs, privaten Unternehmen oder Ministerien. Sie stellen den Studenten eine Aufgabe, die sich mit einer realen Problemlage in Russland beschäftigt. Neben  einem anspruchsvollen Vortragsprogramm und Diskussionen mit namhaften Fachleuten winkt den jungen Leuten auch die Chance auf eine Finanzierung ihrer eigenen Projektideen. Außerdem können aus der Zusammenarbeit mit den Partnern Angebote für Praktika oder sogar Jobs erwachsen.

Veranstaltet wird das Jugendforum von „Rosmolodjosch“, der staatlichen Jugendagentur. „Rosmolodjosch“ stand auch hinter dem berüchtigten Camp am Seligersee in der Region Twer, das von 2005 bis 2014 existierte und in dem zunächst maßgeblich die „Kommissare“ der kremltreuen – mittlerweile aufgelösten – Jugendorganisa­tion „Naschi“ geschult wurden. Es machte durch fragwürdige Praktiken und skandalöse Aktionen von sich reden und galt vielen als Inbegriff der Indoktrinierung russischer Jugendlicher, um sie gegen demokratische Bestrebungen zu immunisieren, wie sie durch die Orangene Revolution in der Ukraine vorgelebt wurden.

Inzwischen ist das Seligercamp von neuen Formaten an neuen Standorten in der Region Wladimir und auf der Krim abgelöst. Auf die Frage, wie sehr auch sie „pro Kreml“ sind, antwortet Sergej Pospelow, der Leiter von „Rosmolodjosch“, er könne nichts Falsches darin sehen, dass die Regierung den Jugendlichen „die besten Möglichkeiten für die Zukunft“ bieten wolle. Das „Territorium der Ideen“ unterstütze angehende Fachkräfte darin, ihre erste eigene Erfolgsgeschichte zu schreiben. Der Bildungsauftrag, so Pospelow, werde nun viel ernster genommen als früher am Seligersee. „Hier entstehen Netzwerke, von denen die Teilnehmer und die Regierung später profitieren können“, sagt er.

An der Ausstattung des Camps wurde nicht gespart. Teilnehmer und Betreuer rauschen auf Segways oder Tretrollern über das Gelände. Flachbildschirme am Flussufer informieren über das tägliche Programm, blitzschnelles WLAN sowie zahlreiche Handyladestationen schmeicheln dem Digital Native. In ihrer Freizeit können die Studenten sich an Fitnessgeräten oder am Kletterturm verausgaben, im Fluss baden oder mit dem Boot über die Kljasma schippern. Das campeigene Radio „Sok“ spielt einen guten Mix aus internationaler und russischer Popmusik.

Zwischen den Zelten sind weiß-blau-rote Wimpelketten gespannt, ansonsten wurde weitgehend auf den Einsatz der Nationalfarben verzichtet. Auch Politikerporträts sucht man vergeblich.

Jugendcamp

Gruppenarbeit im Veranstaltungszelt. / Alina Bertels

Der 27-jährige Wladimir Syrow­new scherzt dennoch über die „kleine Sowjetunion“, die er und seine Freunde hier erleben. Gemeint ist die Hausordnung, die nicht recht zu der modernen Fassade passt. Wer es nach dem Weckruf, der russischen Nationalhymne, um halb acht nicht pünktlich zum obligatorischen Frühsport schafft, der kann nur hoffen, dass es keinem der Betreuer auffällt. Bei solchen Verfehlungen wird ansonsten eine Ecke des Ausweises, den die Teilnehmer stets um den Hals tragen, abgeschnitten. Sind beide unteren Ecken abgetrennt, kann ein weiteres Vorkommnis zum Verweis aus dem Camp führen.

Sitten wie diese mögen befremdlich erscheinen, die Jugendlichen allerdings nehmen das Reglement mit Humor und erfreuen sich an den Möglichkeiten, die ihnen das Forum beruflich und privat bietet. Wladimir zum Beispiel ist hier, weil er etwas verändern möchte: „Es ist eine einmalige Gelegenheit, mit den Verantwortlichen über das System zu sprechen.“ Auch Wessam Abozaalan und Manuel Sombo Djamboni schätzen das Bildungsangebot. Wessam kam vor sechs Jahren aus Syrien nach Russland und Manuel stammt ursprünglich aus Äquatorialguinea. Beide sprechen heute perfekt Russisch und fühlen sich im Camp sehr gut aufgehoben. Russland habe viel für ihn getan, sagt Wessam, er möchte sich nun positiv einbringen. Ma­nuel ist vor allem eins – wissbegierig: „Als Arzt lernt man nie aus“, meint er. Fürs nächste Jahr will auch er ein Projekt vorbereiten und es zur Finanzierung vorschlagen.

In der Dämmerung wird es wieder ruhig auf dem Gelände. Eine große Videoleinwand am Flussufer deutet darauf hin, dass heute ein Film gezeigt wird. Nach dem Abendprogramm erklingt dann noch einmal die Nationalhymne, ab ein Uhr herrscht Nachtruhe im „Territorium der Ideen“. Für viele geht es dann allerdings zurück an die Arbeit, die Projekte sollen schließlich bald präsentiert werden. „Geschlafen wird hier nicht sehr viel“, grinst Wladimir.

Alina Bertels

 

„Ganz klarer erzieherischer Auftrag“

Julius von Freytag-Loringhoven leitet die Mos­kauer Fi­liale der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er hat sich eingehend mit den staatlichen Jugend­foren in Russland be­schäftigt.

Jugendcamp

Julius von Freytag-Loringhoven / Friedrich-Naumann-Stiftung

Die russische Jugendagentur hat ihre Sommercamps spürbar renoviert. Worin sehen Sie die Gründe dafür?

Von den Organisatoren weiß ich, dass das Camp am Seligersee mit den Jahren auszuufern drohte. Damit meinten sie weniger die Diffamierung der Opposition, sondern die Schwierigkeit, bei so einer Massenveranstaltung die Kon­trolle über Inhalte und Teilnehmer zu behalten. Das „Territorium der Ideen“ ist um einiges kleiner, die Teilnehmerzahl wurde stark verringert. Unter solchen Bedingungen soll eine viel gezieltere patriotische und fachspezifische Schulung stattfinden.

Wie funktioniert diese Schulung?

In Deutschland stellt man sich schnell vor, dass da wie zu Sowjetzeiten Marxismus-Leninismus gelehrt wird, das ist natürlich Quatsch. Die Foren sind keine ideologischen Gehirnwäscheveranstaltungen, aber sie haben einen ganz klaren erzieherischen Auftrag. Den Jugendlichen wird gezeigt, wie man mit regionalpolitischen Fragen umgeht, sie werden inhaltlich gestärkt, können sich vernetzen. Dabei sollen sie aber eben auch patriotisch erreicht werden, die heutige Elite kennenlernen und sich als Teil von ihr fühlen. Entsprechend werden die Referenten ausgewählt, unter denen keine sein sollen, die sich systemkritisch äußern, ähnlich wie im russischen Fernsehen also. Es handelt sich natürlich weiter um ein Pro-Kreml-Camp.

Ist Ihnen etwas Vergleichbares in Deutschland bekannt?

Nein, da fallen mir keine ähnlich gelagerten Formate ein. Die deutschen Jugendcamps, die ich kenne, sind entweder sportlicher Natur oder werden eben nicht vom Staat angeboten, wie zum Beispiel die Jugendtage der Kirche. Ich kann mir auch nicht vorstellen, welcher ernstzunehmende Politiker in Deutschland heute ein staatliches Jugendforum zur Stärkung von Patriotismus organisieren wollte.

Das Interview führte Alina Bertels.

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