Wer, wenn nicht Nawalny*?

Wer gibt Andersdenkenden in Russland eine Stimme? Alexej Nawalny* ist tot, andere prominente Oppositionelle sind emigriert oder verbüßen langjährige Haftstrafen. Öffentlich in Erscheinung treten im Lande selbst nur noch wenige. Immerhin konnten sie zuletzt einige Achtungserfolge verbuchen.

Nicht sehr laut, nicht sehr oft, aber manchmal sind in Russland noch kritische Töne zu hören, so wie jeden Samstag im Moskauer Alexandergarten. (Foto: Igor Beresin)

Fast jeder fünfte volljährige Russe lehnt die „militärische Sonder­operation“ in der Ukraine ab. Das zumindest hat eine aktuelle Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM Ende Februar ergeben. Rechnet man die 19 Prozent, die sie „eher nicht unterstützen“, auf die erwachsene Bevölkerung Russlands hoch, die sich  laut Zentraler Wahlkommission auf 112,3 Millionen Menschen beläuft, dann ergibt sich eine riesige Zahl: 21,3 Millionen Russen sind gegen die „Sonderoperation“ und sehen womöglich noch viel mehr kritisch. Artikulieren können sie ihre Unzufriedenheit aber kaum: Im politischen Spektrum sind sie nicht vertreten. Von wem sind unter diesen Umständen überhaupt alternative Standpunkte zu hören und wie geht so etwas aus?

Jekaterina Dunzowa

Die Journalistin Jekaterina Dunzowa (40) aus Rschew in der Region Twer gab Mitte November gekannt, für das höchste Amt im Staat kandidieren zu wollen. Für die meisten Beobachter kam das völlig überraschend. In Interviews machte die dreifache Mutter und frühere Stadtverordnete von Rschew einen ernsthaften und unaufgeregten Eindruck. Sie verurteilte die „militärische Sonderoperation“ und sagte, Russland sei schon seit einem Jahrzehnt auf Abwegen: „Der Kurs ist nicht auf Entwicklung gerichtet, sondern Selbstzerstörung.“

Status quo: Nachdem Dunzowa in Moskau wie vorgeschrieben von 500 Wahlberechtigten als unabhängige Kandidatin nominiert worden war, machte die Zentrale Wahlkommission zahlreiche Formfehler geltend und verweigerte ihr die offizielle Registrierung. Mitte Januar kündigte sie die Gründung einer Partei namens „Rasswet“ an.

Boris Nadeschdin

Da bei russischen Präsidentschaftswahlen üblicherweise nichts dem Zufall überlassen wird, hielten es viele für durchaus wahrscheinlich, dass die Kandidatur von Boris Nadeschdin (60) für die Präsidentschaftswahl im März mit dem Kreml abgesprochen war. Ein „Quoten-Liberaler“, der die „Sonderoperation“ als „großen Fehler“ bezeichnen darf, eine gewisse Klientel für sich mobilisiert und demonstriert, dass in Russland Pluralismus herrscht, aber viel zu schwach ist, um mehr als ein paar Prozentpünktchen zu holen. Ob das so war, wissen nur die Beteiligten.

Die Rolle des „Quoten-Liberalen“ hatte Nadeschdin schon in zahlreichen Polit-Talkshows gespielt, das war so ziemlich das Einzige, was die meisten von ihm wussten. Dabei hatte er für die liberale SPS einst schon in der Duma gesessen. Wollte er es nun wirklich wissen?

Bei aller äußerlichen Gemütsruhe sprach er zumindest Klartext. Im Falle seiner Wahl werde er mit seinem ersten Erlass Nawalny* und andere politische Gefangene freilassen, eine proeuropäische Politik betreiben, sich für Verhandlungen mit der Ukraine einsetzen und die Zusammenarbeit mit dem westlichen Ausland wieder aufnehmen.

Status quo: Nadeschdin gelang, was ihm kaum jemand zugetraut hatte – innerhalb eines Monats die geforderten 100 000 Unterschriften für seine Kandidatur zu sammeln und sogar noch etwas mehr. Vor den entsprechenden Stellen bildeten sich vielerorts lange Schlangen. Die Zentrale Wahlkommission erklärte jedoch 15 Prozent der Stimmen für ungültig. Die Teilnahme an der Wahl war damit gescheitert.

Soldatenfrauen

Sie treffen sich immer samstags im Alexandergarten gleich jenseits der Kremlmauer, um Blumen am Grabmal des unbekannten Soldaten niederzulegen – und über ihre Sorgen zu sprechen. Frauen, Mütter und andere Angehörige von Soldaten, die im Herbst 2022 zur russischen Armee eingezogen und in die Ukraine geschickt wurden, fordern deren Heimkehr, die Heimkehr aller damals Mobilgemachten. Hinter der Aktion im Herzen von Moskau steht die informelle Vereinigung „Put domoj“ (Der Weg nach Hause). Sie lockt auch zahlreiche Unterstützer an.

Status quo: Ein Aufgebot der Polizei ist jedes Mal vor Ort. Festgenommen werden vor allem Journalisten. Die Behörden haben im Vorfeld wiederholt gewarnt, es handele sich um eine nicht genehmigte Veranstaltung.

Jabloko

Die einzige russische Opposi­tionspartei, die diesen Namen auch verdient, findet im öffentlichen Bewusstsein kaum noch statt. Dabei ist sie in ganz Russland vertreten, hat rund 28.000 Mitglieder. Gegründet wurde Jabloko (Apfel) 1993, damals noch unter anderem Namen. Die ersten 15 Jahre war Grigori Jawlinski ihr Vorsitzender. Heute leitet er das sogenannte politische Komitee der Partei, die sich als sozialliberal und sozialdemokratisch bezeichnet, und ist nach wie vor ihr prominentester Kopf.

Jawlinski distanzierte sich 2021 in einem Artikel unter der Überschrift „Ohne Putinismus und Populismus“ von Nawalny*, den und dessen Gefolgschaft er als „neue Propagandisten, die sich Oppositionelle nennen“ bezeichnete. Gleichzeitig forderte er aber die Freilassung aller politischen Gefangenen, darunter von Nawalny*. Die Partei stellte sich öffentlich hinter diese Standpunkte.

Der heute 71-jährige Jawlinski kandidierte drei Mal bei den Präsidentschaftswahlen, zuletzt 2018 (1,08 Prozent). Er wie auch seine Partei sind erklärte Gegner der „militärische Sonderoperation“ Russlands in der Ukraine. Jawlinski spricht sich bei jeder Gelegenheit für einen Waffenstillstand aus. Weiteres Blutvergießen zu vermeiden, habe oberste Priorität, alle anderen Überlegungen seien nachrangig.

Dass Jabloko letztmals in die Staatsduma gewählt wurde, liegt schon 25 Jahre zurück. Jawlinski macht dafür auch Nawalny* und dessen wahltaktisches Konzept des „Schlauen Wählens“ verantwortlich. Es besagt, für jene Bewerber mit den besten Chancen gegen die Kandidaten der Regierungspartei „Einiges Russland“ zu stimmen, unabhängig von Parteizugehörigkeit und Programm. Jawlinski nennt das „idiotisch“ und „fies“.

Status quo: Jabloko ist heute nur noch in fünf Regionalparlamenten in ganz Russland vertreten. In Moskau stellt die Partei fünf der 45 Abgeordneten, in St. Petersburg, einer weiteren traditionellen Jabloko-Hochburg, zwei von 50. In Moskau stehen im September die nächsten Wahlen zur Mosgorduma an.

* Alexej Nawalny ist in Russland als „Terrorist und Extremist“ gelistet.

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