Leningrader Blockade: Menschliches aus einer unmenschlichen Zeit

Sergej Beresowskij war elf Jahre alt, als seine Heimatstadt Leningrad 1941 in den Würgegriff deutscher und finnischer Truppen geriet. Sie bezogen in einiger Entfernung Stellung und warteten darauf, dass die Eingeschlossenen an Hunger und Kälte starben. Heute ist der Junge von damals 88 Jahre alt, hat lange als Anwalt gearbeitet. Und nun berichtet er auf einem eigens eingerichteten YouTube-Kanal, wie er die Blockade er- und überlebte, selbst tief bewegt und seine Zuschauer zu Tränen rührend. Die MDZ hat ausgewählte Passagen übersetzt.

Sergej Beresowskij lässt auf YouTube das belagerte Leningrad vor dem Auge des Zuschauers wieder auferstehen und vermittelt, was das Eingeschlossensein bedeutete. © Screenshot YouTube-Kanal Moja Blokada

Der Große Vaterländische Krieg begann bekanntlich am 22. Juni 1941 um 4.30 Uhr morgens. Für mich begann er zwölf Stunden später. Als die deutschen Panzer bereits Weißrussland und die Ukraine niederwalzten, machte ich mit unserem Kindermädchen Ferien in einem kleinen Dorf auf der Karelischen Landenge, auf früher finnischem Gebiet. Am Nachmittag des 22. Juni tauchte mein Papa auf. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er über die Anhöhe zwischen der Bahnstation und dem Dorf gelaufen kommt und ruft: „Es ist Krieg!“ Die Männer versammelten sich vor dem Dorfsowjet, redeten aufeinander ein. Und wir reisten nach Leningrad ab.

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In der ersten Zeit war vom Krieg nichts zu spüren. Leningrad wurde noch nicht bombardiert und beschossen. Von Norden näherte sich die finnische Armee mit ihrem Oberbefehlshaber Mannerheim. Der war, soweit mir aus der Geschichte bekannt ist, im Zweiten Weltkrieg der einzige General, der es wagte, Hitler zu ignorieren. Er ließ an der alten Grenze haltmachen (Anm. d. Red.: Gemeint ist die finnisch-sowjetische Grenze von 1920 bis 1940.), 32 Kilometer vor Leningrad. Er hatte in der zaristischen Armee gedient, sprach blendend Russisch, kannte sich mit russischer Literatur aus. Vielleicht wollte er die Stadt seiner Jugend und seiner ersten Liebe einfach schonen. Oder ihm war als Mann des Militärs bewusst, dass der Straßenkampf für seine Armee fatal gewesen wäre. Ich weiß es nicht.

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Irgendeine Geistesgröße in der sowjetischen Führung hatte sich ausgedacht, fast die gesamten Nahrungsmittelvorräte an einem einzigen Ort zu konzentrieren – in den Badajew-Lagerhallen. Das war ein offenes Geheimnis, jeder in Leningrad wusste das. Und der deutsche Nachrichtendienst natürlich erst recht. Was machten die Deutschen? Gleich bei ihrem ersten Luftangriff setzten sie die Lagerhallen in Brand. Nicht die Kirow-Werke, nicht andere Rüstungsbetriebe. Nein, Lebensmittel! Sie wussten um die Folgen.

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Am selben Tag (dem 8. September 1941 – die Red.) schloss sich der Belagerungsring.

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Ab einem bestimmen Punkt verlor Geld seine Bedeutung. Es gab nun eine andere Währung: Tauschware.

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Was kam bei uns auf den Tisch? Gürtel! Ganz normale Gürtel für die Taille. Die hat man in Gelatine gekocht und mit ein paar Gewürzen abgeschmeckt, die es in jedem Haushalt gab. Dann wurde das Ganze kalt gestellt und anschließend mit großem Appetit verspeist. Das nannte man Sülze.

Zweitens: technisches Glycerin! Es hat ein bisschen Süße und wurde heißem Wasser beigemischt. Das ergab eine Illusion von Tee.

Drittens: Presskuchen, wie er an Vieh verfüttert wurde. Diese Täfelchen in der Art von Schokolade kamen in den Fleischwolf, die Masse wurde mit einem Lorbeerblatt, Pfeffer und dergleichen gewürzt, der Rest hing von den Umständen ab. Weil meine Mutter Ärztin war, hatten wir noch aus Vorkriegszeiten Rizinusöl zu Hause. Aus diesen Zutaten wurden Buletten zubereitet. Das war eine Delikatesse vom Allerfeinsten.

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Wir Jungs übernahmen nach und nach auch Aufgaben bei der Landesverteidigung. Nachts hielten wir auf den Dachböden Wache. Man hatte uns beigebracht, wie man Brandbomben mit Hilfe einer großen Zange und eines Wasserfasses löscht. Als im Nachbarhaus einmal eine Fliegerbombe einschlug, hätte mich die Druckwelle fast vom Dach geschleudert. Im letzten Moment konnte ich mich am Dachrand festhalten. Das hat mir das Leben gerettet.

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Meine Mama war Bereitschafts­ärztin für die gesamte Stadt. Irgendwelche Privilegien waren damit nicht verbunden, wenn man davon absah, dass sie sich auch nach Anbruch der nächtlichen Ausgangssperre überall aufhalten durfte. Das einzige Mal, dass sie ihre dienstliche Stellung ausnutzte, war, als sie zusammen mit meinem Vater, der ins Hospital eingewiesen wurde, auch mich dort unterbrachte. Das Hospital befand sich in einer ehemaligen Schule. Das muss man sich so vorstellen: ein Klassenraum mit 20 bis 30 Betten, auf denen Menschen lagen. Tag und Nacht herrschte Halbdunkel, denn die Fensterscheiben waren längst zerborsten und durch Spanplatten, Bretter und Pappe ersetzt worden. An elektrisches Licht war natürlich gar nicht zu denken. Die Raumtemperatur: um die null Grad  – und draußen unter minus 30. Das war einer der kältesten Winter in der Geschichte von Leningrad. Wir lagen also da, zugedeckt von zwei, drei Mänteln. Und jeder erzählte etwas von sich. Das konnte alles Mögliche sein, mit einer Ausnahme: kein Wort übers Essen. Unter uns gab es einen Mann namens Iwan Pawlowitsch, der war vor der Revolution Maitre d’hotel in einem der nobelsten Restaurants der Stadt gewesen. Er erzählte, wie dort der Zar, Rasputin und Großfürsten gespeist hatten. Das war natürlich sehr interessant, aber peu à peu kam die Sprache darauf, was der Zar gegessen hat. Anfangs hörten alle gebannt und schweigend zu, bis einer rief: „Iwan Pawlowitsch, wir hatten doch eine Abmachung!“

Sein Schicksal endete tragisch. Er hatte eine Tochter, die Krankenschwester in diesem Hospital war, tagsüber kam sie ihn immer besuchen. Einmal war an seinem Bett plötzlich Wehklagen zu vernehmen: „Papa!“ Sie hatte ihn leblos aufgefunden. Er war friedlich eingeschlafen.

In diesem Hospital sind auch Verwandte von mir gestorben: zwei Tanten, eine Großtante – sie alle sind verhungert.

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Viele Jahre später, bereits im Erwachsenenalter, habe ich mir oft die Frage gestellt, was das wohl für Kräfte sind, die aus den einen unerschrockene und unbescholtene Menschen machen  und aus anderen Feiglinge und Schufte. Ich habe sowohl Erstere als auch Letztere erlebt. Wie kam zum Beispiel unser Kindermädchen, eine einfache junge Frau vom Lande, die außer „Mumu“ in ihrem Leben wahrscheinlich nichts gelesen hat, dazu, sich zum Blutspenden zu melden? Nicht, dass man dafür etwas zu essen bekommen hätte, nein. Aber es gab eine Flasche Milch! Und diese Frau, dem Hungertod nahe, rührte die Milch nicht an, ebenso wenig wie das meine Mutter und mein Vater taten. Sie war für mich, das Kind!

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Sie können sich nicht vorstellen, wie sich Hunger anfühlt! Ich habe keine Schuss- oder Splitterverletzungen erlitten und weiß nicht, wie es ist, wenn man von einer Kugel getroffen wird. Sicher ist das auch nichts Schönes. Aber Hunger zu leiden ist schrecklich. Man muss wohl über besondere Qualitäten verfügen, um trotzdem Mensch zu bleiben. Denn der Kopf kann an nichts anderes mehr denken als: Essen! Essen! Essen!

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Meine Mutter als Ärztin wusste, dass ein Dystrophiker nicht lange liegen durfte, sonst stand er nicht mehr auf und war verloren. Liegen hieß sterben. Man musste sich bewegen, ob man wollte oder nicht. Sie jagte meinen Vater, der mehr tot als lebendig war, vor die Tür, damit er wenigstens ein bisschen lief und frische Luft schnappte. Ich begleitete ihn für den Fall, dass er hinfiel. Aber was hätte ich schon tun können? Ihm aufhelfen? Dafür fehlte mir die Kraft. Jemanden zu Hilfe rufen? Das wäre vergeblich gewesen. Die Menschen verrohten und es wäre wohl kaum jemand stehengeblieben. Der Tod war zum Alltag geworden. Man hatte sich daran gewöhnt.

Manche verheimlichten den Tod ihrer Angehörigen, um für sie weiterhin Lebensmittelkarten ausgehändigt zu bekommen. Das galt auch für meinen Schulfreund. Der lebte mit seiner Mutter und seinen Tanten. Wenn jemand starb, dann nannte er das mit seinen elf Jahren „eine Form annehmen“. Er sagte: „Tante Wanda hat eine Form angenommen.“ Seine tote Tante wurde im Schrank versteckt, damit die Kärtchen für sie nicht verlorengingen.

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Mir hat sich ins Gedächtnis eingebrannt, wie ich einmal eine Bekanntmachung an einem Telegrafenmast entdeckte: „Biete Konzertflügel Steinway & Sons für einen Laib Weißbrot“. Aber auf so einen Tausch ließ sich niemand ein. Ich weiß nicht, was aus dem Flügel geworden ist. Wahrscheinlich hat man ihn verbrannt, so wie alles verbrannt wurde, was auch nur etwas Wärme geben konnte. Denn neben dem Hunger war da ja auch noch die Kälte.

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Wer Zugang zu Lebensmitteln hatte, der konnte alles dafür bekommen. Gemälde, Schmuck, Möbel – einfach alles. Brot war das Zauberwort, das in allen Köpfen herumspukte.

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In den Läden, wo es Brot gab und sonst so gut wie nichts, standen kleine Jungs beim Ladentisch. Sie sahen schlimm aus: aufgedunsen, gelblich, schmutzig. Alles, was sie dort taten, war – warten. Warten darauf, dass jemand unvorsichtig oder entkräftet genug war, seine Brotration fallen zu lassen. Dann schnappten sie sich das Stück und stopften es schnell in sich hinein. Sie rannten nicht weg, nein. Dazu hatten sie gar keine Kraft und man hätte sie auch nicht laufen lassen. Sie wollten nur essen, komme, was wolle. Denn sie wussten, wie das enden würde. Sie fielen hin, man prügelte sie halbtot. Keiner hatte Mitleid mit ihnen.

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Unseren Behörden muss man zugutehalten, dass sie die Schulen geöffnet haben. Gelernt hat dort keiner. Die Lehrer waren zu schwach, um uns zu unterrichten. Und die Schüler waren zu schwach, um einem Unterricht zu folgen. Das war, wenn man so will, auch eine Art Krankenstation, wo man uns ein wenig verpflegt hat: Hier ein Löffel Kascha, dort ein Stück Zucker. Damals hätte mich meine scheinbar angeborene Spielernatur fast das Leben gekostet. Wir haben Karten gespielt – Preferans. Mit meinen zwölf Jahren hatte ich gegen die Älteren keine Chance. Der Spieleinsatz war das Essen, das wir in der Schule bekamen. Meines wurde einkassiert, ohne mit der Wimper zu zucken. Es hieß: Spielschulden sind Ehrenschulden. Meine Eltern konnten sich nicht erklären, was mit mir los war. Ich magerte immer weiter ab. Ihr Kind war dabei, zugrunde zu gehen. Als sie mich schließlich zur Rede stellten, habe ich ihnen unter Tränen alles gebeichtet. Mein Vater hat das dann irgendwie geregelt.

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Ich habe viel über die Blockade gelesen. Vortreffliche Schriftsteller haben darüber geschrieben: Granin, Dudin, Berggolz. Und zwar wahrheitsgetreu, keine Lügen! Aber trotzdem … Leider hat sich bisher kein Leo Tolstoi gefunden, der das letzte Wort sagen würde, das gesagt werden muss. Ein Mechanismus des Schändlichen, ein Mechanismus des Heldenhaften – noch ist nicht alles zu Tage gekommen.

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P.S.: Im Sommer 1942 gelang es Sergej Beresowskij und seiner Familie, aus dem belagerten Leningrad nach Magnitogorsk im Ural zu flüchten.

Übersetzung: Tino Künzel

https://www.youtube.com/watch?v=LR2EiLBcioE

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