Ein Plattenbauviertel im Norden Moskaus. Im Erdgeschoss eines Wohnhauses befindet sich neben kleinen Lebensmittelläden und einer Bibliothek auch ein Parteibüro von „Einiges Russland“. An einem heißen Junitag steht die Tür sperrangelweit offen. Am Eingang hängt eine Mitteilung über das Sammeln von Hilfsgütern.
In einem großen Raum hängt ein Netz über einem Gestell. Ein Dutzend Frauen knüpfen Stoffstreifen in Tarnfarbe hinein. In ein bis zwei Tagen kann eine solche Brigade ein Netz fertigstellen.
„Wir sind in Wirklichkeit um die siebzig Personen“, erklärt Ljudmila Mjassojedowa, die Betreuerin der Gruppe. „Dreißig kommen regelmäßig. Es sind vor allem Frauen im fortgeschrittenen Alter. Aber es kommen auch Familien und Männer. Sogar kleine Mädchen kommen mit ihren Großmüttern her. Sie schauen, wo im fertigen Tarnnetz noch Lücken sind und knüpfen Streifen hinein. Viele sind zu uns gekommen, nachdem im Mai die Zeitung des Stadtbezirks über uns geschrieben hatte.“
Manch einer bleibt nur eine kleine Weile. „Lieber knüpfe ich eine Stunde, als dass ich fernsehe“, denken sie. Einige sind bereit, einen halben oder einen ganzen Tag hier zu verbringen, sogar am Wochenende.
Galina: „Damit unsere Kinder sich dort geschützt fühlen.“
„Das Stehen fällt uns natürlich nicht leicht“, gesteht die 74-jährige Galina. „Aber wir kommen hierher, damit sich unsere Kinder dort geschützt fühlen.“ Sie sagt, „dass alle jeden Tag weinen“ und dass „sie niemandem etwas tun und wollen, dass man auch ihnen nichts tut“.
Nach Tatjanas Ansicht „sind hier Menschen, für die Heimat kein leeres Wort ist“.
Lidija: „Wir flechten unsere Gebete in die Netze ein.“
Der Sohn der 75-jährigen Lidija ist an vorderster Front. Er ist mit 52 Jahren als freiwilliger Kämpfer gegangen. Drei Monate lang wollte man ihn nicht nehmen, aber er hat hinter dem Rücken der Mutter im Wehrkreiskommando Klinken geputzt. Dann hat man ihn genommen. Seine Entscheidung erklärte er folgendermaßen: „Was sage ich später meinen Kindern, wenn ich jetzt nicht gehe?“ Lidija meint, dass die Frauen hier Netze knüpfen, weil dort „ihre Jungs sind und sie wollen, dass diese zu ihren Müttern und Frauen zurückkehren“. Lidija demonstriert, wie sie ihre Gebete mit in die Netze einflechten. Ihrer Ansicht nach ist das Kollektiv hier gut und einmütig, alle sind Gleichgesinnte und die gemeinsame Arbeit macht sie jünger.
Olga ist hier, weil „wir unseren Oberkommandierenden unterstützen“. Sie erzählt, dass ihr Verwandter Gennadi Lupuschor, ein Moldawier, der die russische Staatsbürgerschaft angenommen hat, an der Front gefallen ist. Er war auch freiwilliger Kämpfer. „Er ist im September gefallen. Vor zwei Monaten wurde er mit allen Ehren hier bei Moskau bestattet. Er hätte nicht zu dienen brauchen, was ist Russland schon für ihn? Aber es ist doch zur zweiten Heimat geworden“, sagt Olga und zeigt ein Foto Gennadis auf ihrem Handy. Ein gut aussehender junger Mann. „Er hatte zwei Jungen …“
Sergej: „Ihr seid freiwillig hier“
Unser Gespräch wird unterbrochen. Sergej betritt den Raum. Er dient im Donbass vertraglich. Man überreicht ihm feierlich drei Säcke mit fertigen Tarnnetzen. Die Frauen danken dem nicht mehr jungen Armeeangehörigen mit Tränen in den Augen und er bedankt sich bei ihnen. „Ihr seid freiwillig hier. Aber wir ziehen in die Schlacht auf Befehl“, sagt Sergej. In den nächsten Tagen kehrt er an die vorderste Linie zurück. Alle an der Arbeit Beteiligten nehmen mit seinem Handy eine Videobotschaft auf: „Wir Mütter verneigen uns vor Euch! Passt auf Euch auf und kehrt als Sieger zurück!“
Sie wissen, dass man „dort“ ihr Video auf jeden Fall anschauen wird. Als Antwort schickt man Fotos, wie die Tarnnetze eingesetzt werden. So bedecken zwei Netze einen KAMAZ und eines von besonderer Größe einen Schützenpanzer.
Maria: „Wir denken, dass jedes Netz den Sieg beschleunigt.“
Maria hat einen Sohn bei der „militärischen Sonderoperation“. Sowohl sie als auch Ljudmila bestätigen, dass sie selbst bereit wären, als Freiwillige in den Donbass zu gehen. Aber wegen ihres Alters nimmt man sie nicht, sie würden selbst zu viele Medikamente brauchen. Deshalb helfen die Frauen mit allem, was sie können von zu Hause aus: Sie organisieren das Sammeln von Hilfsgütern, nähen Bekleidung, seit Februar knüpfen sie Tarnnetze. Sie finden, dass „jedes Netz den Sieg beschleunigt.“
Wie verhalten sie sich dazu, dass Russland am 24. Februar 2022 die „militärische Sonderoperation“ begonnen hat? „Ich sage es mal so: Der Donbass hat sich von der Ukraine „scheiden lassen“. Er wollte nicht mehr mit ihr leben, warum will sie ihn dann zurückholen?“, erklärt Ljudmila. „Wir verteidigen die Gebiete, die beschlossen hatten, sich von der Ukraine zu trennen und mit Russland zu leben. Wir wollen in Frieden leben.“
Olga Silantjewa