Geliefert: Mein Alltag als Kurierin in Russland

Die Moskauerin Aljona Kowalenko (29) ist ausgebildete Pilotin. In der Coronakrise legte sie eine berufliche Notlandung hin und arbeitet seitdem als Kurierin im Onlineversand. Der MDZ hat sie vom Innenleben einer Branche erzählt, die immer mehr an Bedeutung gewinnt.

Schiebt als Kurierin Bodendienst: Pilotin Aljona Kowalenko (Foto: Privat)

Vor anderthalb Jahren habe ich in der Region Rjasan eine Flugschule mit Auszeichnung abgeschlossen und bin nach Moskau zurückgekehrt – mitten in die Coronakrise hinein. Von uns Absolventen fand kaum jemand Arbeit. Und selbst die Glückspilze, die von Aeroflot genommen wurden, bekamen 20.000 Rubel gezahlt (damals etwa 230 Euro), wovon natürlich niemand leben kann.

Was man verdienen kann

Im Herbst 2020 habe ich bei Ozon (Anm. d. Red.: Onlineversandhändler, das „russische Amazon“) als Kurierin angefangen. Damals wollte ich mich einfach nur ein paar Monate über die Zeit retten und mir dann etwas Neues suchen. Aber da wusste ich noch nicht, dass das eine durchaus einträgliche Arbeit ist. Manche Kuriere verdienen bei Ozon bis zu 200.000 Rubel im Monat (2400 Euro). Ich bin auch schon auf 130.000 Rubel (1550 Euro) gekommen – bei flexiblen Arbeitszeiten und ohne großen Stress. Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, würde ich es nicht glauben.

Dabei war es anfangs schon ein komisches Gefühl, Pakete auszutragen. Ich bin nicht nur gelernte Pilotin, sondern habe auch eine Hochschulausbildung im Flugingenieurswesen absolviert und früher bei Transaero Flugzeuge gewartet, bis die Fluggesellschaft geschlossen wurde. Aber das war nicht meins. Ich wollte immer selbst den Himmel erobern.

Die große Leidenschaft von Aljona Kowalenko ist das Fliegen. (Foto: Privat)

Meinem Vater gehört ein kleines, in die Jahre gekommenes Propellerflugzeug. Es wurde seinerzeit vom Moskauer Staatlichen Luftfahrtinstitut für Versuchszwecke entwickelt. Das erste Mal hat mich Papa mit an Bord genommen, als ich 15 war. Meine jugendliche Begeisterung kannte keine Grenzen. Heute fahre ich jeden Morgen nach Rusa, rund 80 Kilometer westlich von Moskau, wo die Maschine steht. Ich drehe meine Runden über dem Flugplatz und manchmal auch über unserer Datscha, um Mama zuzuwinken.

Meist bin ich bis zum Nachmittag in Rusa. Der Rückweg nach Moskau dauert ungefähr anderthalb bis zwei Stunden. Den Rest des Tages bin ich als Kurierin im Einsatz.

Was man schaffen kann

Wenn der Kunde das Zeitfenster von 19 Uhr bis 0 Uhr angekreuzt hat, dann kann die Ware auch bis Mitternacht zugestellt werden. Optional besteht die Möglichkeit, das Paket an der Tür zu hinterlassen. Doch üblicherweise wird es persönlich in Empfang genommen.

Innerhalb einer Stunde schaffen es erfahrene Kuriere, ungefähr zehn Bestellungen abzuarbeiten. Pro Abend kommt man so auf 20 bis 30, wenn nicht 50 zugestellte Pakete. Der Kurier kann wählen, ob er die Ware mit seinem eigenen Fahrzeug oder mit einem von Ozon zur Verfügung gestellten Auto ausfahren möchte. Im ersten Fall werden 135 Rubel pro Kunde gezahlt, im zweiten 100. Ich bin mit meinem Skoda Rapid unterwegs.

Das Ganze läuft so ab: Du kommst ins Lager und suchst anhand einer Nummer das Gestell mit den Paketen, die du heute zuzustellen hast. Du gleichst die Anzahl der Schachteln mit einer Liste ab, damit auch wirklich alles übereinstimmt. Die Route ist in der Regel nicht vorgegeben. Du siehst die Zustellorte auf einer Karte und entscheidest selbst, in welcher Reihenfolge du sie abfährst. Die Bestellungen sind nach geografischen Gesichtspunkten vorsortiert. Es kommt vor, dass 15 oder 20 Empfänger in einem einzigen Haus wohnen.   

Was man erleben kann

Alte Hasen unterscheiden günstige und ungünstige Bestellungen. Ungünstig sind Gegenden, in denen man sich nicht auskennt, wo die Innenhöfe abgesperrt sind oder wo man fürs Parken bezahlen muss. Auch Hochhäuser sind nicht sonderlich beliebt, mit Fünfgeschossern hat man es leichter. Wer schon länger dabei ist, der weiß, wie man ungünstige Bestellungen loswird und mit dem Supervisor günstigere Routen aushandelt.

Während man zu einem Kunden fährt, kann man Kommentare über ihn von anderen Kurieren lesen. Wenn sie negativ sind, dann stellt man sich schon von vornherein darauf ein, dass der Kontakt entsprechend verläuft. Und hat dann mitunter eine durchaus freundliche Person vor sich, die dir mit einem Lächeln begegnet. Aber manche sehen auf dich herab, als seien sie etwas Besseres. Ich habe die Leute nie nach Klassen eingeteilt, bei meiner Arbeit jedoch eine Gesetzmäßigkeit festgestellt: Wenn die Bestellsumme bei 1000 Rubel liegt – also nur den Mindestbestellwert beträgt –, sind die Kunden besonders hochnäsig und lassen ihre Launen an dir aus. Man kann ihnen nichts recht machen. Mir kommen sie so vor, als fühlten sie sich vom Leben betrogen.

Natürlich ist es viel angenehmer, wenn dir die Leute etwas zu trinken anbieten, dir ein Trinkgeld zahlen. So wie eine Frau in einem Eigenheim, die mir sage und schreibe 500 Rubel Trinkgeld zugesteckt hat. Omis verpflegen mich immer wieder mit Schokolade und sind total erstaunt, dass der Kurier auch eine Kurierin sein kann. 

Einmal musste ich 120 Liter Wasser in die fünfte Etage zustellen. Einen Fahrstuhl gab es nicht. Ich rief bei den Kunden an und erfuhr, dass das alte Leute sind. Ich schickte mich also an, die Ware die Treppe hinauf zu schleppen, doch der Opi kam nach unten und sagte, dass er einer jungen Frau so etwas nicht erlaubt. Er hat selbst die gesamte Bestellung nach oben getragen. Solche Episoden verleihen dir Flügel, während dir griesgrämige Wachleute und Pförtner umgekehrt Kraft rauben.

Ich sehe das Kurierdasein als eine Art Abenteuer, als einen Lebensabschnitt, der nicht von langer Dauer ist. Vielen anderen geht es genauso. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich in dem Job Ärzte oder Geschäftsleute treffe, die wegen gewisser Umstände dort gelandet sind.

In zwei Wochen beginnt meine Ausbildung in einer großen Fluggesellschaft, in vier Monaten werde ich meinen Dienst als Copilotin antreten. Das Stipendium in der Ausbildungszeit wird nur einen Bruchteil dessen betragen, was ich als Kurierin verdient habe. Und Copiloten bekommen auch nicht mehr als die erfolgreichsten Kuriere bei Ozon. Aber Geld ist nicht alles. Ich erfülle mir meinen Traum.

Aufgeschrieben von Anna Braschnikowa

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