Die rote Linie im Donbass überschritten

Aus den zwei Teilen, in die der Donbass zerrissen ist, soll wieder eins werden, so sieht es das Minsker Abkommen für die Ost­ukraine vor. Bis vor Kurzem flogen noch Granaten über die rote Linie hin und her, eine Friedenslösung dürfte Jahre brauchen. Doch die Fronten sind im Kleinen gar nicht so unüberwindlich. Die Biografien der Ortskräfte einer deutschen Hilfsorganisation stehen exemplarisch dafür.

Kriegsspuren: Einschusslöcher in einem Zaun in Krasnohoriwka (Foto: Dana Ritzmann)

„Das glaubt uns keiner, dass es im Donbass keine Kohle gibt.“ Michail Pawljuk steht im Pumpenhäuschen von Krasnohoriwka und macht sich Sorgen um die Wasserversorgung in diesem Winter. Der pensionierte Hydrologie-Ingenieur erklärt, dass die Innentemperatur nicht unter fünf Grad fallen dürfe, weil ansonsten die Rohre gefrieren und das System lahmlegen könnten.

Eigentlich müssten deshalb dringend die Fenster repariert werden, die seit den Granateinschlägen von 2017 in dem 800-Seelen-Dorf auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet defekt sind. Aber überall fehle das Geld, egal ob in der Gemeindekasse oder in den Privathaushalten. Deshalb könnten die Menschen auch keine Kohle kaufen, sondern sammelten lieber Holz, sagt Pawljuk und lacht bitter auf. Keine Kohle im Donbass, ein Trauerspiel.

Schließlich gilt das Donezbecken als eines der wichtigsten Kohlereviere der Welt, allein in der Ukraine lagern mit 32 Milliarden Tonnen die größten Hartkohleressourcen Europas. Die Zechen und Stahlwerke, die hier noch in Betrieb sind, gehören überwiegend Rinat Achmetow. Der Oligarch gilt mit einem Privatvermögen von mehr als fünf Milliarden Euro als der reichste Mann der Ukraine. Doch was man im Osten der Ukraine sieht, sind Armut und Trostlosigkeit. Und immer wieder die Spuren des Krieges, der auch nach fünf Jahren noch andauert.

Ukraine bei IDPs auf Platz neun weltweit

Um die schlimmste Not zu lindern, werden deshalb vor allem in den entlegenen Dörfern der Gegend Hilfsgüter verteilt – darun­ter auch Kohle. Einer, der seit Jahren die Nothilfe mitorganisiert, ist Sergej Guzaljuk. Bis 2014 war der Mittdreißiger noch selbst als Elektronikingenieur in einer Zeche in Donezk beschäftigt. Jetzt ist er einer von 1,5 Millionen Binnenvertriebenen. Mit dieser Zahl liegt die Ukraine weltweit auf Platz neun bei  den sogenannten IDPs (Internally Displaced Persons). Das sind Menschen wie Guzaljuk, der seine Heimatstadt verlassen hat, auf der Suche nach Sicherheit und einer Perspektive. Gefunden hat er sie bei arche noVa, einer humanitären Organisation aus Dresden, die seit vier Jahren in der Ostukraine tätig ist. Ein Großteil des Teams in Slowjansk besteht aus Mitarbeitern, die von der anderen Seite der Kontaktlinie stammen.

Guzaljuk ist heute für das Sicherheitsmanagement der Hilfsorganisation zuständig. Kein leichter Job in einem Gebiet, dessen Straßen von Checkpoints und Polizeisperren übersät sind und in dem er selbst aufgrund seiner Herkunft irgendwie als verdächtig gilt. Er ist wütend auf seine Landsleute. „Ich hätte gedacht, sie seien schlauer, als zu den Waffen zu greifen und sich gegenseitig zu erschießen. Jetzt sind Tausende gestorben und es ist schwierig, zum Frieden zurückzukehren. Aber wir müssen trotzdem sehen, dass wir verhandeln. Einen anderen Ausweg gibt es nicht.“

Der Tochter zuliebe weg aus der Donezk

Wie Guzaljuk in der humanitären Hilfe beruflich Fuß gefasst hat auch Dmitrij Poloskow. Der Bauinge­nieur lebt seit vorigem Jahr wieder in Kramatorsk, einem Nachbarort von Slowjansk, wo er großgeworden ist. „Aber meine Heimat ist Donezk, dort habe ich studiert und mehr als 18 Jahre gelebt, ich wollte nie weg“, erzählt er. Erst als die Einschulung seiner Tochter bevorstand, überlegte Poloskow, der nach dem Studium moderne Wohntürme realisierte, die jedoch aufgrund des Krieges nie bezogen wurden, es sich anders. Ausschlaggebend sei die Befürchtung gewesen, dass ein Schulabschluss später außerhalb der „Volksrepubliken“ nicht anerkannt würde und damit der Weg zum Studium und in den Beruf versperrt wäre.

Mit deutscher Hilfe sanierte Toilette in der Schule von Krasnohoriwka mit Blick auf den Sportplatz (Foto: Dana Ritzmann)

Für arche noVa hat Poloskow die Bauleitung bei den Wasserprojekten inne. Er sorgt dafür, dass in Schulen und Krankenhäusern Waschräume und Wasserbehälter saniert werden und dass in den Dörfern an der Konfliktlinie Wassertürme gebaut, Pumpen repariert und Leitungen verlegt werden. „Meine Arbeit ist nützlich, das hilft mir, mit der Situation klarzukommen“, sagt er.

Doch sein Zuhause fehlt ihm und der Weg dahin ist beschwerlich. Mehr als zwölf Stunden wartete der 34-Jährige im Spätsommer an einem der wenigen Grenzübergänge. Morgens um vier war er in Slowjansk losgefahren, erst nach 17 Uhr kam er drüben in Donezk an. Er wollte nur nach dem Rechten schauen. Die frühere Wohnung hüten jetzt die Nachbarn. So weiß er sein Eigentum, die Pflanzen und die Katze in guten Händen.

Im Takt mit der neuen Zeit

Dmytro Drischd hatte das Gefühl, mal raus zu müssen aus der Konfliktregion. Auch er stammt aus Donezk, lebte einige Zeit in Slowjansk, war Finanzmanager bei arche noVa. Ende 2018 ging er nach Kiew. Doch es dauerte kein Jahr, bis er seine Heimat vermisste. Die Hauptstadt war ihm zu groß, aber vor allem fehlte ihm seine kleine Tochter, die bei ihrer Mutter in Donezk aufwächst, jenseits der roten Linie. Also kam er zurück, zumindest nach Slowjansk. Für ihn ist das auch ein beruflicher Neustart: Er übernimmt in der Stadt das Büro von New Way, einer ukrainischen NGO, die in Zukunft die Projekte von arche noVa in der Ostukraine weiterführen wird. „Wir planen, nicht mehr nur humanitäre Hilfe zu leisten, sondern auch zivilgesellschaftliche Entwicklungen in der Ukraine voranzubringen“, sagt Drischd entschlossen.

Wie so viele seiner Landsleute ist er beflügelt von der neuen Zeit, die mit der Wahl von Präsident Selenskij anbrach und die er gern mitgestalten würde. Wie schwierig das mitunter ist, zeigte sich schon bei der Gründung der neuen Organisation, die er jetzt leitet. „Allein die Namensfindung war uns eine Lektion in Demokratie“, erzählt Drischd schmunzelnd über die Kommunikationskultur in seinem neuen Team. Gleichzeitig spielt er auf die komplizierten gesellschaftlichen Prozesse in der Ukraine an. „Einfach ist es jedenfalls nicht, sich auf etwas Wegweisendes zu einigen, das am Ende allen gefällt.“

Zumal dann, wenn jeder sein Päckchen zu tragen hat, das aus historischen Zäsuren und persönlichen Erfahrungen bisweilen unglücklich gebündelt ist.

Dana Ritzmann

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