Datscha-Diplomatie: Wenn Schweigen Silber und Reden Gold ist

Die Datscha ist eine Oase mit Risiken und Nebenwirkungen. Ob sie ihrer Rolle als Platz zum Auftanken gerecht wird oder eher noch Nerven kostet, hängt stark von der Bereitschaft zur Verständigung unter Nachbarn, Bekannten und Verwandten ab.

Eingezäunte Datschensiedlung im Umland von St. Petersburg (Foto: Tino Künzel)

Mein Datschenleben begann so richtig, als ich zwölf Jahre alt war. Bis dahin kannte ich nur anderer Leute Datschen, aber 1983 legten auch wir uns eine zu. Gemeinsam mit zwei weiteren Moskauer Familien wurden drei echte Bauernhäuser in einem kleinen Dorf in der Region Twer gekauft, 380 Kilometer von Moskau. Zusammen gab es nur ein Auto und der Bummelzug brauchte die ganze Nacht. Die Bedingungen in den Häusern waren spartanisch: Geheizt wurde mit Holz, das Klo befand sich im Hof. Und das Wasser kam nicht aus der Leitung, sondern vom Brunnen, einmal durch das halbe Dorf.

Aber wir waren glücklich. Man half sich gegenseitig, reparierte die Holzhäuser mit vereinten Kräften, saß oft an einem Tisch zusammen. Das Dorf war der Ort, an dem wir Bekannte um uns hatten, die sich wie Verwandte anfühlten.

Datscha ist nicht nur Erholung

Verwandtschaft schützt indes nicht davor, dass die gemeinsame Freizeit zur Qual werden kann. Man weiß: Wenn die Schwiegereltern ihren Schwiegersohn nach allen Regeln der Kunst auf die Datscha gelockt haben, dann kann er sich auf etwas gefasst machen. Und das ist nicht der abendliche Tee mit eingemachten Früchten. Sehr wahrscheinlich braucht der Schwiegervater einen Gehilfen beim Bau eines Schuppens und die Schwiegermutter ein paar fremde Hände, um den Garten umzugraben, der bis zum Horizont reicht. Widerstand ist zwecklos. Der Hinweis des zu landwirtschaftlicher Fronarbeit Verurteilten, all die Erzeugnisse könne man auch im Laden kaufen, zieht nicht, denn die „eigene Ernte“ ist schließlich etwas ganz anderes. Und auch das Konzert, bei dem er übermorgen Rachmaninow spielen muss, bewahrt ihn nicht vor dem Spaten: „Deine Hände können sich morgen noch erholen.“   

MDZ-Chefredakteur und Datscha-Besitzer Igor Beresin plaudert in seiner Kolumne aus dem Datschnik-Nähkästchen.

Die Datscha ist eine wahre Schule der Kommunikation. Mit Bekannten wie Unbekannten. In diesem Zusammenhang eine Frage: Liebe Städter, wie kommt es eigentlich, dass ihr auf dem Dorf, wo sich eure Datscha befindet, sämtliche Passanten höflich grüßt, während ihr zu Hause im Fahrstuhl noch nicht mal einen Blick für eure Mitbewohner übrig habt? Zur Halbzeit meines irdischen Lebens habe ich dieses Rätsel nicht lösen können.

Wenn Dörfler auf Moskauer treffen

Wobei ein freundlicher Gruß nicht unbedingt auch ein herzliches Willkommen und einen problemlosen Dialog garantiert. Als frischgebackene Datschniks hatten wir es auf dem Dorf zunächst nicht leicht. Erstens sprachen die Dörfler damals noch einen lokalen Dialekt, auf den wir uns nicht immer einen Reim machen konnten. Zweitens sind die Einheimischen in den Regionen gegenüber Moskauern wenn nicht feindselig, so doch zumindest misstrauisch eingestellt. Drittens – der Teich. Mein älterer Bruder hob ihn zwischen unserem Grundstück und der Straße aus. Das hatte vor allem einen praktischen Grund: So konnte nämlich das Wasser aus der ewigen Schlammpfütze auf der Straße abfließen, wo nicht nur Autos stecken blieben, sondern sogar der schwere Traktor „Belarus“. Doch eine Abordnung der Ortsansässigen verurteilte diese Neuerung scharf: Ihr könnt in eurem Moskau schalten und walten, wie ihr wollt, aber nicht hier, tadelten sie die Städter. Danach gingen sie weg, nur um noch am selben Tag ihre Enten zu dem Gewässer zu treiben, das wir angelegt hatten.

Aber es ist nicht nur das Dorf. Die Datschensiedlungen im Moskauer Umland sind genauso eine Übung in guter Nachbarschaft. Konflikte bleiben dabei nicht aus. Und wenn in der Stadt ein beliebter Aufreger die Bohrmaschine ist (liebe Nachbarn von oben, nach drei Jahren könntet ihr euer doch gar nicht so großes Anwesen so langsam mal fertig renoviert haben), so entzündet sich der Streit auf dem Land gern mal an den Demarkationslinien.

Zaun ist nicht gleich Zaun

Per Gesetz darf der Zaun zwischen benachbarten Grund­stücken – im Unterschied zu dem zur Straße hin – nicht blickdicht sein (und du, Sergej, hast dieses zwei Meter hohe Monstrum aus Metall dort hingestellt). Im Fall des Falles kann man natürlich klagen, doch es ist immer besser, sich mit den Nachbarn ins Benehmen zu setzen, schließlich muss man mit ihnen irgendwie auskommen. Wer solche Dinge vor Gericht austragen will, macht sich damit keine Freunde und erreicht oft auch nicht viel. Möglich, dass der Gesetzesbrecher den illegalen Zaun abreißen muss und stattdessen eine leichte Konstruktion von 30 Zentimetern Höhe errichtet – aber nur einen Meter davon entfernt etwas baut, das höher als die Berliner Mauer ist. Es kann als „Wirtschaftsgebäude“ deklariert werden. Nonsens, aber es hat schon Präzedenzfälle gegeben.

Was tun, wenn man partout keine gemeinsame Sprache findet? Wenn zwei komplett unterschiedliche Welten aufeinanderprallen? Ein Klassiker: Man fährt auf die Datscha, um sich von der Stadt zu erholen, darunter auch vom städtischen Lärm, aber der Nachbar und seine Kinder erweisen sich als Musikliebhaber. Das pausenlose Konzert, mit dem aus dem Fenster des Nachbarhauses die gesamte Straße beschallt wird, ist ein großes „Vergnügen“ (Sascha, wechsle doch wenigstens ab und zu die Playlist, das kann man ja nicht mit anhören).

Wie du mir, so ich dir

In unserer Siedlung werden solche Konflikte im persönlichen Gespräch oder mittels des Whatsapp-Chats beigelegt. Doch das klappt nicht immer und überall. Von einem Bekannten, der ein kampferprobter Datschnik ist, stammt folgendes Rezept für den Fall, dass alle Argumente erschöpft sind: Er drehte buddhistische Meditationsmusik bis zum Anschlag auf. Das wirkte, die Harmonie in seiner Siedlung war binnen zehn Minuten wiederhergestellt.

Aber man sollte nicht glauben, es gäbe ständig nur böses Blut. Gerade hat man sich noch gestritten, aber fünf Minuten später bieten dieselben Leute ihre Hilfe an, schlagen vor, ihren Brunnen zu nutzen, solange man keinen eigenen hat, schenken Setzlinge. Man muss einfach mit den Nachbarn reden, dann wird die Datscha auch wirklich zur Komfortzone, in der man, auf dem Bett liegend, in aller Ruhe ein Buch von Turgenjew lesen kann, weil die einzige Musik von den Fröschen kommt, die draußen auf dem Teich ihr eigenes Konzert quaken. Der Juni ist die ideale Zeit dafür.

Igor Beresin

Mitte Mai hat das Reiseportal Tutu.ru seine Leser gefragt, wo sie ihren Sommerurlaub zu verbringen planen. Die häufigste Antwort (28%): „auf der Datscha oder auf dem Dorf“. Jeder fünfte Befragte gab an, ans Schwarze Meer fahren zu wollen, für elf Prozent soll es ins Ausland gehen. Neun Prozent legten sich geografisch nicht fest: „egal wohin, Hauptsache ohne Menschenmassen“.

https://www.tutu.ru/opros/history/869/

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