Blockbuster über eine Heilige

In den russischen Kinos ist „Doktor Lisa“ über Russlands bekannteste humanitäre Aktivistin angelaufen. Handwerklich und künstlerisch kann der Film nur bedingt überzeugen. Dafür erforscht er, was im heutigen Russland gesagt werden kann.

Lisa
Doktor Lisa verteilt am Pawelezer Bahnhof Essen an Obdachlose. (Foto: kinopoisk.ru)

Heldenverehrung hat im russischen Kino eine lange Tradition. Fast alle bedeutenden Soldaten, Wissenschaftler oder Sportler liefen bereits über die Leinwand und errangen dort Siege für die Heimat. Mit „Doktor Lisa“ ist jetzt ein Film erschienen, dessen Heldin für ihren Einsatz für Kranke und Bedürftige berühmt und von ihren Anhängern gar als Heilige angesehen wurde. Der Film habe einige Mängel, monieren Kritiker, betonen aber auch, dass er Aussagen über das aktuelle Russland zulässt.

Jelisaweta Glinka war der Star unter den russischen Ärzten. Jahrelang war sie mit verschiedenen Hilfsorganisationen im Einsatz für die Obdachlosen Moskaus und erhielt dafür viel Respekt aus der russischen Gesellschaft (2017 war die MDZ bei der Organisation „Haus der Freunde“ zu Besuch). Doch spätestens mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine bekam das Ansehen Glinkas Risse. Bereits zuvor gab es immer wieder Kritik, dass Glinka zu nah an Staat und Politik stehe und immer wieder mit diesen zusammenarbeite. Eigentlich ein Unding für Aktivisten. Auch die Besuche in den selbsternannten Republiken des Donbass und in Syrien waren Wasser auf die Mühlen der Kritiker.

Doktor Lisa wurde geliebt und kritisiert

Nachdem Glinka Ende Dezember 2016 auf dem Weg nach Syrien bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, ging ein tiefer Riss durch ihr Umfeld. Für die einen wurde die Ärztin mit ihrem Tod endgültig zu einer Heiligen. Für die anderen war sie eine Person, die als kleines Rad in große Dinge verstrickt war, die nichts Gutes verhießen. Beweis dafür war etwa, dass Glinka kurz vor ihrem Tod eine Auszeichnung für die Beteiligung „An der Militäroperation in Syrien“ erhielt.

Gut möglich, dass diese Ambivalenz mit ausschlaggebend dafür war, dass sich die Regisseurin Oxana Karas bei „Doktor Lisa“ gegen das in den vergangenen Jahren beliebte Genre des Biopic entschieden hat. Stattdessen wird in den zwei Stunden Leinwandaction die Chronik eines einzelnen Tages erzählt. So lautet das Motto des Filmes dementsprechend heroisch „Ein Tag, um alle zu retten“. Dieser Tag ist der 25. April 2012, der 30. Hochzeitstag Jelisaweta Glinkas.

Geschichte eines Tages

Neben der Planung des Jubiläums schafft „Doktor Lisa“ noch einiges. Sie organisiert Kleidung und versorgt hunderte Obdachlose am Pawelezer Bahnhof und fährt zu der Beerdigung eines Schützlings. Entscheidend für die Handlung ist aber die kleine Eva, die mit einer Krebserkrankung im Endstadium aus dem Krankenhaus entlassen wird und dringend Morphin benötigt. In ihrer Not wenden sich die Eltern des Mädchens an „Doktor Lisa“, die das Morphin anschließend aus dem Krankenhaus mitgehen lässt. Das wiederum ruft die Polizei auf den Plan, die endlich glaubt, etwas gegen die Ärztin in der Hand zu haben.

Zusätzlich stürzen sich die Beamten noch auf Glinkas US-amerikanischen Mann. Aus Lisa wird so eine Verdächtige in einem Verbrechen und aus der Chronik eines Tages ein Sozialdrama über das heutige Russland.
Kritiker sind uneins, ob „Doktor Lisa“ eine gelungene Verfilmung der Geschichte Jelisaweta Glinkas ist.

Der Film erforscht, was gesagt werden kann

Für die Hauptdarstellerin Tschulpan Chamatowa zumindest gibt es nur Lob. Sie sei die absolute Idealbesetzung, heißt es. Wohl auch, weil Chamatowa die Rolle der „Doktor Lisa“ entscheidend umschrieb. Beim wichtigen Filmfestival Kinotawr kam „Doktor Lisa“ hingegen nicht gut an. Keine einzige Jury-Auszeichnung erhielt der Streifen dort im September. Dafür aber den Sympathiepreis der Zuschauer.

Der beweist, dass die Menschen in Russland durchaus verstanden haben, dass „Doktor Lisa“ mehr ist als eine Geschichte über eine Heldin. Der Film sei ein Beispiel dafür, dass das russische Kino eine Sprache sucht, um über das, was in Russland hier und jetzt geschieht, zu sprechen, meint der Kinokritiker Jaroslaw Sabalujew. Und er zeigt den Unterschied zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Haltung, etwa was die Obdachlosen anbelangt.

Anton Dolin sieht „Doktor Lisa“ als einen Gedankengang darüber, was es heißt, im heutigen Russland ein gesellschaftlich guter und aktiver Mensch zu sein und ob es solche Menschen überhaupt noch gibt. Fast symptomatisch für die Passivität der Gesellschaft steht der Satz, den ein Kollege zu Lisa sagt, als er ihr das Morphin verweigert: „Ich bin Scheiße und du eine Heilige“.

Daniel Säwert

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