Marino am Stadtrand von Moskau. Es ist ein ungemütlicher Tag. Der Schnee fällt in dicken Flocken und der eisige Wind schneidet im Gesicht. In der Einfahrt der Kirche „Lindre O Mutter Meinen Kummer“ wechseln drei Frauen Obdachlosen die Verbände an den amputierten Gliedmaßen. „Die meisten Amputationen sind die Folge von Erfrierungen“, sagt Lana Schurkina, die Leiterin des „Haus der Freunde“, einer Organisation, die sich um Obdachlose kümmert.
Seit vier Monaten kommen die Helfer jeden Freitag hierher. Ganz in der Nähe befindet sich das „Zentrum für soziale Eingliederung Ljublino“, in dem Obdachlose im Winter übernachten können. Viele bleiben dann tagsüber in der Nähe. Außerdem kommt man hier schnell an Drogen, erklärt Schurkina.
Dass heute lediglich eine Handvoll Personen ihre Hilfe in Anspruch genommen haben, liege am Schnee. Normalerweise kommen mehr. Aber bei diesem Wetter haben sich viele doch verkrochen. Dennoch ist die Stimmung ausgelassen, es wird viel gescherzt. Denn mittlerweile kennt man sich. „Über Mundpropaganda hat sich unsere Hilfe sehr schnell herumgesprochen. Zunächst herrschte Misstrauen. Aber nachdem sie die Erfolge bei der Heilung gesehen haben, nehmen immer mehr Obdachlose unser Angebot an“, sagt Schurkina nicht ohne Stolz.
Ab und zu bleiben Passanten stehen und fragen, was die Frauen hier machen. „Ach, Verbände und Medikamente. Kein Essen?“, wundert sich eine Frau und geht weiter.
Nach Angaben des Stellvertretenden Vorsitzenden der Abteilung für Arbeit und Sozialschutz der Stadt Moskau Pawel Keller lebten im Jahr 2016 knapp 13 000 Obdachlose in Moskau.
Das „Haus der Freunde“ spricht von 12 000 bis 18 000 Menschen, die auf Moskaus Straßen leben, je nach Jahreszeit. Aber, so betonen sie, die Wirtschaftskrise der letzten Jahre habe die Zahl der Obdachlosen nicht ansteigen lassen. Vielmehr sind die Menschen durch die massiven Renovierungsprogramme der Stadt Moskau schlicht sichtbarer geworden. Viele der baufälligen Häuser, in denen sie ihren Unterschlupf hatten, werden nun großflächig abgerissen.
Ein wenig Ruhe finden
Im Stadtzentrum, in der Nähe der Metrostation Taganskaja, betreibt der orthodoxe Hilfsdienst „Barmherzigkeit“ (Miloserdie) seit vier Jahren den „Rettungshangar“. Man habe extra einen zentralen Ort gewählt, erklärt die Pressesprecherin Dina Skwortsowa. Zudem gehören die umliegenden Gebäude entweder der Kirche oder sind unbewohnt. Das hilft, eventuelle Probleme mit Anwohnern zu vermeiden, so Skwortsowa weiter.
Vor dem Tor warten ungefähr 15 Menschen darauf, eingelassen zu werden. Auf dem eingezäunten Gelände befindet sich ein großes Zelt, das im Winter beheizt wird. Jeder, der hierher findet, bekommt eine warme Mahlzeit und Tee. Im Gegensatz zur heiteren Atmosphäre beim „Haus der Freunde“ ist es hier ruhig, sehr ruhig.
Man merkt den Menschen an, dass sie erschöpft sind. Das wichtigste sei, dass die Menschen einfach im Zelt entspannen und sich ein wenig ausruhen können, flüstert Skwortsowa fast. Diese Ruhe überträgt sich auf den ganzen Ort. Auch die Raucher sind lieber mit ihrer Zigarette allein, als sich mit den Umstehenden zu unterhalten. Wer Kraft findet, kann duschen und zu dem kleinen Friseur gehen, in dem Freiwillige den Obdachlosen die Haare schneiden. Auch Anziehsachen gibt es für jeden.
Gespendet wird nach Bedarf
Essen und Kleidung wird viel gespendet, vor allem im Winter. Was fehlt, seien in erster Linie Winterschuhe in großen Größen, so Skortsowa. Die Spendenbereitschaft ist diesbezüglich relativ groß, da in Russland die Meinung herrscht, dass ein Mensch satt und vernünftig angezogen sein soll.
Bei Geldspenden sieht es hingegen nicht so gut aus. Viele Russen meinen, dass sich ein Erwachsener selbst versorgen müsse. Von daher halten sie Geldspenden für etwas Extravagantes. Da diese fehlende Bereitschaft nicht zufriedenstellend ist, wünscht sich Lana Schurkina, dass der Staat mehr geben würde. Man weiß ja, wieviel Geld die Stadt Moskau hat und sehe, dass sie durschaus schnell etwas bewegen kann, so Schurkina weiter.
Dass in Moskau gerne für konkrete gespendet wird, zeigt sich auch an dem für jeden zugänglichen Telefon im „Rettungshangar“, dessen Rechnung von einem privaten Spender übernommen wird.
Rückkehr ist das Ziel
Sowohl die „Barmherzigkeit“ als auch das „Haus der Freunde“ geben sich nicht damit zufrieden, die größte Not zu lindern, sondern wollen den Menschen auch langfristig helfen. Es geht ihnen darum, die Obdachlosen als würdige Menschen zu behandeln. So vernimmt man von beiden Organisationen das Wort „Rückkehr“ als Arbeitsziel. Rückkehr bedeutet hierbei sowohl die Heimkehr in die Familie als auch die Rückkehr in ein geregeltes Leben. Der Leiter des „Rettungshangars“ Roman Skorosow ist überzeugt, dass die meisten Menschen wieder integrierbar sind.
Viele Menschen, die auf der Straße leben, haben keine Dokumente mehr. Oft sind sie abgelaufen oder wurden geklaut. Sozialarbeiter beschaffen den Betroffenen neue Papiere, oft auch aus dem Ausland. Wer in seine Heimatstadt zurück möchte, dem kaufen die Mitarbeiter eine Fahrkarte. Unterstützung bekommen sie dabei von der Russischen Bahn. Seit Februar dieses Jahres gibt es auch eine Arbeitsvermittlung.
Momentan arbeitet man mit elf Bauernhöfen zusammen. Bauernhöfe seien ideal, da sie den Menschen auch einen Platz zum Schlafen geben und die Obdachlosen dort beweisen können, ob sie wirklich bereit sind, zu arbeiten, meint Skorosow „Vor kurzem meldete sich jemand aus Kalmückien, der sogar angeboten hat, die Obdachlosen vernünftig zu bezahlen“, so Skorosow weiter. Allerdings sind nicht alle bereit, ihr Leben in Moskau aufzugeben und nach Kalmückien, Lipezk oder Orjol zu ziehen. Wer es dennoch versucht und scheitert, steht oft wieder am Tor des „Rettungshangars“.
Wünsche für die Zukunft
Auf die Frage, wie man die Arbeit in Zukunft weiterentwickeln möchte, antwortet Roman Skorosow, dass der „Rettungshangar“ sein Programm der Arbeitsvermittlung weiter ausbauen möchte. Noch seien es zu wenige Bauernhöfe, die sich für die Obdachlosen engagieren. Wichtig sei auch, den Betroffenen nicht das Gefühl zu vermitteln, dass es lediglich darum gehe, sie aus Moskau abzuschieben, so Skorosow.
Lana Schurkinas Wunsch für die Zukunft klingt bescheidener. Oft fragt sie Obdachlose, was sie sich am sehnlichsten wünschen. Als Antwort hört sie häufig, dass es den Betroffenen wichtig sei, nicht mehr von der Gesellschaft stigmatisiert und als Menschen wahrgenommen werden. Für den Moment aber sehnen sich die meisten einfach nach einem guten Bett, in dem sie alleine sind. So schwebt Schurkina die Idee eines Hostels für Obdachlose vor, wo die Menschen in Einzelzimmern für kurze Zeit ihrem harten Alltag entfliehen können. Wie man diese Idee umsetzen könne, weiß Schurkina noch nicht.
Daniel Säwert
INFO:
Öffentlich-private Partnerschaft
Nichtstaatliche Initiativen wie das „Haus der Freunde“ und der „Rettungshangar“ mit ihrer Flexibilität arbeiten eng mit den staatlichen Strukturen und deren Finanzkraft zusammen. Nachdem der „Rettungshangar“ sieben Jahre lang einen Bus betrieb, in dem Obdachlose im Winter übernachten konnten und medizinische Versorgung bekamen, reagierte die Stadt Moskau. Im Jahr 2009 richtete die Abteilung für Sozialschutz die „Sozialstreife“ ein, die unter anderem Hilfsbedürftige an den Moskauer Bahnhöfen betreut. Auch die Arbeit des „Haus der Freunde“ wird durch das Bereitstellen von Autos erheblich unterstützt.
Da beide Organisationen nur tagsüber arbeiten, werden Menschen, die es wünschen, von der „Sozialstreife“ in das „Zentrum für soziale Eingliederung“ nach Ljublino gefahren. Dort stehen den Obdachlosen 350 Betten zur Verfügung, in ganz Moskau sind es 1000. Hinzu kommen weitere 1250 stationäre Plätze für Menschen, die auf neue Papiere warten. Im Jahr 2017 standen dem „Zentrum für soziale Eingliederung“ für seine Arbeit 350 Millionen Rubel zur Verfügung. Durch die Zusammenarbeit sank die Zahl der Kältetoten unter den Obdachlosen zwischen 2010 und 2014 um 85 Prozent.